Die 6. Stunde

Der Krieg in der Ukraine: Wie kann und wie soll er enden?

Eine Kolumne von Martin Klingst
Der Krieg in der Ukraine: Wie kann und wie soll er enden? Foto: Atlantik-Brücke

Ich bin kein Russland- oder Ukraine-Experte, auch kein Fachmann für Militär- oder Energiepolitik. Doch viele Sachverständige, die sich gegenwärtig zuhauf in allen möglichen Talkshows, Podiumsdiskussionen und sozialen Medien äußern, lassen mich oft ratlos zurück. Immer häufiger steige ich aus diesen Debatten mit dem Gefühl aus, dass wirklich drängende Fragen, solche, die bereits der normale Menschenverstand diktiert, nicht wirklich gestellt werden. Oder dass viele Antworten auf die diffizilen Probleme zu glatt und selbstgewiss ausfallen. Als gäbe es bei aller Eindeutigkeit russischer Schuld keinen Zweifel darüber, was realistische Kriegsziele sind, erfolgsversprechende Strategien, zu verantwortende Unterstützung.

Manche Antworten fallen auch nach wie vor stur und gebetsmühlenartig nebelig aus, wie etwa auf die Frage, warum Deutschland der Ukraine bislang offenbar immer noch keine schweren Waffen geliefert hat, obwohl der Bundestag die Bundesregierung dazu Ende April in einem Beschluss unmissverständlich aufgefordert hat. Ist Artikel 20 Grundgesetz, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, für die Regierung ohne Bedeutung? Warum antwortet allen voran Bundeskanzler Olaf Scholz stets nur verschlüsselt? Bedeutet das, er will die Lieferung von Gepard-, Marder- oder gar Leopard-Panzern so lange wie möglich hinauszögern, weil er – und auch andere NATO-Partner – mit der Bereitstellung solchen Geräts eine Eskalation befürchten? Weil er Russland nicht weiter herausfordern und womöglich zu einer Status-Quo-Politik zurückkehren will? Mag sein oder auch nicht. Doch wer sich nicht verständlich erklärt, darf sich nicht wundern, wenn in ihn alles Mögliche und Unmögliche hineingedeutet wird.

Immer häufiger steige ich aus diesen Debatten mit dem Gefühl aus, dass wirklich drängende Fragen nicht wirklich gestellt werden.

Ähnlich verschleiert fällt – allerdings weniger hierzulande als in Frankreich – die Antwort auf die Frage aus: Wird die Europäische Union der Ukraine den begehrten Status eines Beitrittskandidaten gewähren? An wohlfeilen Lippenbekenntnissen, dass die Ukraine selbstverständlich zu Europa gehört, fehlt es nicht. Doch muss diese banale Tatsache niemand der Ukraine versichern. Dass sie Teil Europas ist, weiß sie selbst – und das versteht sich auch von selbst.

Was sich die Regierung in Kiew zurecht von der EU wünscht, ist Gewissheit darüber, ob das Bekenntnis zur europäischen Zukunft der Ukraine auch politische und institutionelle Folgen zeitigen wird. Mit anderen Worten: Kiew will in die Riege offizieller EU-Beitrittskandidaten aufgenommen werden. Nur: Warum fällt es einigen EU-Staaten so schwer, der Ukraine den Pfad zu einer Mitgliedschaft zu öffnen? Was fürchten sie? Wie lang und beschwerlich dieser Weg werden wird und ob die Ukraine je ans Ziel gelangt, liegt – wie bei allen anderen Beitrittskandidaten – letztlich allein in ihrer Hand. Denn die Voraussetzungen sind klar: Die Ukraine muss sämtliche Bedingungen erfüllen, alle Hürden nehmen, es gibt keine Abkürzungen, keine Sonderrechte, keine Mitgliedschaft light.

Kurzum: Viele Debatten über den Krieg und seine Folgen bleiben angesichts der Fülle offener Fragen unterkomplex. Und zeigt nicht die Tatsache, dass etwa in Beijing, Neu Delhi, Brasília oder Addis Abeba mit ganz anderen Augen auf Russlands Angriffskrieg geschaut wird, dass die Interessen höchst unterschiedlich ausfallen? Dass sie bisweilen gar gegensätzlich sind, nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb der die Ukraine unterstützenden Bündnisse?

Viele Debatten über den Krieg und seine Folgen bleiben angesichts der Fülle offener Fragen unterkomplex.

Ich will in dieser Kolumne darum einige weitere Fragen aufwerfen, die meiner Meinung nach dringend beleuchtet werden sollten, schon weil der weitere Fortgang des Krieges dies zwingend erfordert.

Was zum Beispiel sind die Kriegsziele? Kriege verlaufen stets dynamisch, Putins Angriff auf die Ukraine ist dafür exemplarisch. Er begann mit einer gewaltigen Fehleinschätzung, dachten doch viele im Westen und dachte offensichtlich auch Wladimir Putin, dass russische Truppen die gesamte Ukraine mehr oder weniger im Spaziergang einnehmen und in Kiew eine Marionettenregierung einsetzen würden. Doch die Ukrainer zeigen sich wehrhaft, sie leisten bewundernswerten Widerstand, fügen dem russischen Aggressor schwere Verluste zu und konnten ihn mancherorts sogar zurückdrängen, dank eigener Kraft und Resilienz – und dank der Waffenlieferungen und logistischen Unterstützung vieler NATO-Staaten.

Und dennoch offenbart sich nach nunmehr drei Monaten Krieg: Russland hat im Osten wie im Süden der Ukraine wichtige Landstriche und Städte erobern können, seine Truppen mauern sich dort ein, schneiden der Ukraine nach und nach wichtige Versorgungslinien ab und erzielen in kleinen Vorstößen weitere territoriale Gewinne. Der Krieg wird aller Voraussicht nach lange dauern und wird in den kommenden Wochen und Monaten in eine zunehmend schwierige Phase geraten.

Was aber heißt das für die Kriegsziele? Für viele Ukrainer liegt die Antwort auf der Hand. Sie wollen verständlicherweise die Souveränität ihres Landes in den Grenzen vor 2014 wiederherstellen und die russischen Truppen aus dem Donbas und möglichst auch aus der Krim zurückdrängen. Dafür begehrt die Ukraine schweres bis schwerstes Kriegsgerät der NATO-Partner, mehr logistische und finanzielle Unterstützung.

Aber wie realistisch ist das, zumal die NATO-Mitglieder sich verpflichtet haben, selbst nicht direkt in den Krieg einzugreifen? Mit welchen Waffenlieferungen würden sie die rote Linie überschreiten? Ab welchem Punkt würde man eine nicht gewollte Kriegsausweitung, womöglich eine atomare Konfrontation riskieren? Das ist schwer zu beantworten, zumal im Zweifel allein Putin entscheidet, ab wann für ihn die westlichen Unterstützer zur unmittelbaren Kriegspartei werden.

Angst vor russischer Überreaktion wäre kein guter Kompass für westliches Handeln.

Dem russischen Präsidenten sollte man allerdings diese Entscheidung nicht überlassen. Denn einerseits hat er in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder brutal vorgeführt, dass er sowieso macht, was er will, und sich von keinen Zugeständnissen, keinem Appeasement abhalten lässt. Andererseits scheint er nicht völlig von rationalem Denken befreit zu sein. Den westlichen Schulterschluss, die Sanktionen gegen sein Land, sogar den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands hat er offenbar einkalkuliert. Jedenfalls scheinen ihn die westlichen Reaktionen bislang nicht derart zu schockieren, dass er in Panik völlig unüberlegt agiert. Mit anderen Worten: Angst vor russischer Überreaktion wäre kein guter Kompass für westliches Handeln.

Zurück zur Frage der Kriegsziele: Die einen antworten, die Ukraine müsse gewinnen, die anderen, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Aber was heißt das konkret? Zwischen „gewinnen müssen“ und „nicht verlieren dürfen“ besteht ein ziemlich großer Unterschied.

Eine andere Antwortformel lautet: Russlands Aggression dürfe sich nicht auszahlen, weil Putin sonst weitermachen würde und sich am Ende womöglich China ermutigt sähe, Taiwan zu besetzen.

Es ist richtig, Beijing schaut ganz genau auf das europäische Kriegsgeschehen. Aber auch die Formel, dass Russland eine Lektion erteilt werden müsse, ist wenig aussagekräftig, versteht doch jeder etwas anderes darunter. So ist in einigen NATO- und EU-Ländern die Meinung zu hören, dass man doch Russland bereits eine gehörige Lektion erteilt habe, sei das Land doch wirtschaftlich geschwächt und militärisch nicht imstande, sich die gesamte Ukraine einzuverleiben.

Die New York Times hat vor Kurzem in einem Leitartikel die Finger in die Wunde gelegt und darauf hingewiesen, dass zwar niemand der Ukraine die Kriegsziele diktieren könne oder gar solle. Doch sei damit noch nicht die Frage beantwortet, bis zu welchem Punkt die westlichen Unterstützer bereit wären mitzugehen. Je länger der Krieg, je kostspieliger die Folgen für jedes einzelne Land, so die Times, desto brüchiger die Allianz und die Unterstützung der Kriegspolitik in den westlichen Gesellschaften.

Was also, fragt die Zeitung, will und kann der Westen selbst erreichen? Will er vor allem weiteres Blutvergießen und die weitere brutale Zerstörung der Ukraine verhindern, will er darum so schnell wie möglich auf einen Waffenstillstand drängen, als Grundlage für Verhandlungen mit Putin? Aber worüber soll verhandelt werden? Soll, muss Kiew Russland territoriale Zugeständnisse machen? Doch bis zu welchen Zugeständnissen stünde die Ukraine immer noch als Gewinnerin des Kriegs da? Henry Kissinger, Amerikas ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister, hat auf dem World Economic Forum in Davos der Ukraine geraten, sie solle nicht um ein paar Quadratkilometer wegen die Sicherheit Europas gefährden. Aber ist diese Forderung nicht vermessen? Und was heißt hier überhaupt noch europäische Sicherheit, da Putin die Geschichte zurückdrehen will, die alte Sowjetunion wieder aufleben lässt und von der NATO verlangt, sich hinter ihre Grenzen von 1997 zurückzuziehen?

Verfolgen vielleicht einige Staaten der westlichen Allianz in diesem Krieg viel weitergehende Ziele?

Oder einmal ganz anders gedacht: Verfolgen vielleicht einige Staaten der westlichen Allianz in diesem Krieg viel weitergehende Ziele? Geht es ihnen, wie manche Äußerungen einiger anderer amerikanischer Politiker nahelegen, darum, Russland dauerhaft so zu schwächen, dass es sich nie wieder ein solches militärisches Wagnis erlaubt? Erhofft man sich, dass mit der Schwächung Russlands zugleich auch China abgeschreckt wird? Steht dahinter vielleicht sogar der verständliche Wunsch nach einem regime change im Kreml? Dieses Ergebnis wäre, ehrlich gesagt, natürlich sehr wünschenswert, doch ist es auch realistisch? Würde man so nicht unweigerlich in eine nicht mehr beherrschbare Kriegsausweitung schlittern? Und würde darüber nicht letztlich auch das westliche Bündnis zerbrechen?

Weitere offene Fragen: Immer wieder heißt es, eine besonders wirksame Waffe gegen Putins Krieg wäre der totale Boykott fossiler Brennstoffe aus Russland. Dem Kreml würde das Geld ausgehen, die Kriegskasse würde sich leeren. Aber auch beim Energieboykott stoßen sowohl in Europa als auch weltweit sehr unterschiedliche Interessen aufeinander.

Ein Beispiel: Der Boykott russischen Öls durch die EU rückt in greifbare Nähe, doch offensichtlich findet Moskau bereits andernorts begierige Abnehmer, zum Beispiel in Indien. Doch darf man Indien dafür geißeln, dass es mehr Öl in Russland einkauft? Katastrophale Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius setzen dem Land, seiner Bevölkerung, seiner Industrie und Landwirtschaft derzeit arg zu. Indien braucht – schizophrenerweise – dringend mehr fossile Brennstoffe, um einige verheerende Folgen der Hitzewelle abzufedern und um die Verzweiflung und den Unmut in der Bevölkerung nicht weiter zu schüren. Kann, darf man diese Erschütterungen außer Acht lassen?

Ein zweites Beispiel: der Import von russischem Gas, eines Energieträgers, von dem besonders Deutschland abhängig ist. Mal abgesehen von der Frage, ob der deutsche Hauptkunde ein sofortiges Aus für russisches Gas ökonomisch verkraften würde – der Brennstoff fließt durch Pipelines aus Russland in den Westen. An diesen Röhren hängt nicht nur Deutschlands Versorgung, sondern auch die vieler anderer europäischer Staaten einschließlich der Ukraine.

Werden diese Röhren stillgelegt, muss, wie es ja bereits geschieht, Ersatz auf den Weltmärkten gefunden werden – und zwar einstweilen in Form von tiefgekühltem flüssigen Erdgas, das aus den USA, dem Mittleren Osten und Afrika mit Schiffen transportiert wird. Die Folgen sind bereits zu spüren: Das Angebot an diesem Gas wird knapp, die Preise gehen durch die Decke.

Am stärksten betroffen sind mal wieder die armen Länder im globalen Süden.

Die Leidtragenden aber sind nicht in erster Linie wir, weil wir das teure Gas bezahlen können. Am stärksten betroffen sind mal wieder die armen Länder im globalen Süden – und zwar gleich doppelt: Ihnen fehlt nicht nur das Geld, um im Wettbewerb um Erdgas mithalten zu können, ihnen geht wegen des Kriegs in der Ukraine auch der bitter benötigte Weizen und das Sonnenblumenöl aus. Millionen Menschen sind deshalb von Hunger und Tod bedroht, werden in Armut und Flucht getrieben. Auch wenn ein Besuch des Bundeskanzlers in Kiew längst überfällig ist, die Reise von Olaf Scholz nach Afrika macht durchaus Sinn. Zurecht hat der Kanzler in seiner Rede in Davos darauf hingewiesen: „Für viele Länder Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas ist der Krieg in der Ukraine geografisch weit weg. Ganz nah hingegen sind seine globalen Folgen in Form drohender Hunger-, Rohstoff- und Inflationskrisen. Wenn wir wollen, dass diese Länder auch in Zukunft Freiheit und Recht gemeinsam mit uns verteidigen, dann müssen wir uns auch ihren Sorgen gegenüber solidarisch zeigen.“

Russlands Krieg gefährdet die Existenz der Ukraine, er bedroht die Freiheit, die Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Doch er zieht nicht nur Europa, sondern mittlerweile die ganze Welt in Mitleidenschaft. Diese Folgen müssen mitbedacht werden, wenn es um die Frage geht, wie dieser Krieg enden kann und enden sollte. Die Antworten sind angesichts der unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Interessen nicht leicht zu geben, aber sie müssen offen und kontrovers diskutiert und dann auch gefunden werden.

Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA. Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

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