Außen- und Sicherheitspolitik

„Die Demokratie kämpft ums Überleben“

„Die Demokratie kämpft ums Überleben“ Düzen Tekkal Foto: Bastian Thiery

Unsere Weltordnung steht vor tiefgreifenden Umbrüchen. Demokratie, Frieden und Rechtsstaatlichkeit seien vielerorts in Gefahr, warnt die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal. Im Interview spricht sie über wachsende Identitätskonflikte sowie den Aufstieg von Extremismus und Populismus weltweit. Tekkal mahnt zur aktiven Verteidigung der Demokratie, betont die Bedeutung einer strategischen Autonomie Europas und kritisiert die Rolle verschiedener Akteure im Nahostkonflikt. 

Interview mit Düzen Tekkal

ATLANTIK-BRÜCKE: Frau Tekkal, blicken wir auf die aktuellen globalen Konflikte: Erleben wir derzeit eine Weltordnung im Umbruch?

DÜZEN TEKKAL: Ganz klar, wir erleben eine echte Zeitenwende, wenn ich das Wort nochmal bemühen darf. Die These von Francis Fukuyama, dass sich am Ende der Geschichte liberale Demokratien überall durchsetzen würden, hat sich nicht bewahrheitet – im Gegenteil. Das westliche Zeitalter ist vorbei. Wir sehen den Übergang von einem blockbasierten System hin zu einem System von Einzelstaaten, die sich zunehmend individuell positionieren. Die internationale Architektur, die wir kannten, existiert so nicht mehr. Staaten agieren heute zunehmend „à la carte“ und die Weltpolitik ist komplexer denn je. Die maßgebliche Aufgabe ist jetzt, Ordnung zu schaffen – im Denken, Fühlen und Handeln, insbesondere für die liberalen westlichen Demokratien.

Bringt eine „neue Weltordnung“ mehr Chancen auf Frieden oder eher neue Risiken für Konflikte?

  Es gibt derzeit ausgeprägte Identitätskrisen, egal wohin man blickt. Wir sind wieder mitten im „Kampf der Kulturen“ und in Identitätskonflikten. Das, was Samuel P. Huntington damals als offenen Streit der Kulturen beschrieben hat, müssen wir heute als Realität anerkennen. Konflikte entstehen, indem Kriegsführer Identitäten, Ethnien und Religionen gezielt instrumentalisieren. Das Glaubwürdigkeitsproblem des Westens ist evident – zu oft wurden Werte propagiert, aber nur eigene Interessen verfolgt. Das zeigt sich beispielsweise in den Konflikten rund um die Ukraine, Israel, Gaza. Weltweit agieren Extremisten stärker denn je. Frieden ist keine Selbstverständlichkeit; er muss aktiv verteidigt werden, was wir in Europa lange ignoriert haben.

Es steht viel auf dem Spiel – unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind bedroht. Die Demokratie erlebt eine beispiellose Anfeindung und Fragmentierung. Werte wie selbstkritisches Handeln und Diskursbereitschaft geraten in den Hintergrund. Die gesellschaftliche Polarisierung nimmt durch Phänomene wie Cancel Culture weiter zu.

Wo zeigt sich, dass die Demokratie ums Überleben kämpft?

Ganz besonders deutlich wird dies in den USA, wo die Rule of Law Stück für Stück ausgehebelt wird. Donald Trump regiert immer mehr wie jemand, der über den Ausnahmezustand gebietet: mit dem Einsatz der Nationalgarde in Großstädten und dem rabiaten Einsatz der Migrationsbehörde ICE – die bereits dazu geführt haben, dass amerikanische Staatsbürger deportiert wurden. Seine Politik spaltet das Land und vergiftet das gesellschaftliche Klima. Extreme politische Ansichten werden salonfähig, schaukeln sich gegenseitig hoch – auch durch politische Attentate, die im Diskurs zunehmend und erschreckenderweise normalisiert werden. Für einige politische Beobachter stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Vereinigten Staaten auf dem Weg in den Faschismus sind: Sie sind es schon. Auch wir in Europa müssen auf der Hut sein und uns gegen Desinformationskampagnen, das Aushöhlen demokratischer Institutionen und politisch motivierte Gewalt stemmen.

Rechtspopulistische Parteien haben weltweit Zulauf. Müssen wir uns um Demokratie, Freiheit und Menschenrechte ernsthaft Sorgen machen?

Rechtspopulisten stellen eine zentrale Gefahr dar – die AfD zeigt, wie extreme Positionen den parlamentarischen Raum erobern. Aber Extremismus ist nicht ausschließlich rechts verortet; auch Linksextremismus, Islamismus und Antisemitismus sind ernstzunehmende Bedrohungen. Meine Empfindung  ist, dass Demokraten oft zu früh aufgeben. Es ist erschreckend zu sehen, wie jetzt viele aus der politischen Mitte glauben, dass sie profitieren, wenn sie die Politik und Rhetorik der AfD übernehmen. Die Polit-Barometer zeigen aber, dass sie nicht dafür belohnt werden, dass sie die „Brandmauer“ in Teilen eingerissen haben. Es steht zu befürchten, dass in den Kommunal- und Landtagswahlen im kommenden Jahr das Original gewählt wird.

Die Ursachen für den Rechtsruck liegen aber auch beim politischen Establishment: Viele Menschen sind tatsächlich abgehängt, was sich in den Wahl erfolgen radikaler Parteien wie AfD und BSW widerspiegelt – das ist im Übrigen nicht nur hier bei uns so, das können wir auch in Amerika beobachten. Wir müssen deshalb die Debattenräume zurückerobern und stärker für unsere Werte eintreten. Im Moment beobachte ich eine große Schweigespirale: Die Menschen sind nicht mehr bereit, etwas zu riskieren, weil sie mit ihrer antifaschistischen Haltung sofort angefeindet werden. Dieses Phänomen ist besonders auf Plattformen wie TikTok zu beobachten, wo die AfD und auch Islamisten den Diskurs an sich reißen und dort gezielt ihre Inhalte verbreiten. Die Algorithmen fördern die Polarisierung und führen zu einer gefährlichen Desinformation in Teilen der Gesellschaft.

Ist Social Media ein Verstärker dieser Entwicklungen?

Social Media wirkt wie ein gesellschaftliches Brennglas. Die Dynamiken der Algorithmen entziehen sich oft jeder Kontrolle. Tech-Unternehmen nehmen ihre Verantwortung nicht ausreichend wahr, was dazu führt, dass Hass
und Drohungen oft ungeahndet bleiben. In meinen Augen haben wir eine Krise der Demokratie.

Wie können wir unsere Demokratie retten?

Nun geht es darum, dass wir diese Demokratie, für die es sich immer zu streiten lohnt, wieder mit Leben füllen. Das müssen wir online und offline machen und das heißt auch, dass wir ein demokratisches Ökosystem brauchen.
Wir brauchen zivilgesellschaftliche Akteure, aber auch Unternehmen und Organisationen wie die Atlantik-Brücke, die sich motiviert und mutig in den Diskurs stürzen. Denn die Politik hat offenbar im Moment noch nicht erkannt, dass sie den Menschen eine Idee vermitteln muss, was Deutschland ist. Wir dürfen die Erzählung über Deutschland nicht den Falschen überlassen.

Welche Rolle spielen die USA in der neuen Weltordnung?

Die USA sind derzeit von starker gesellschaftlicher Spaltung geprägt und wenden sich zum Teil ab vom internationalen Führungsanspruch. Die transatlantischen Beziehungen sind so herausgefordert wie selten zuvor. Die Polarisierung und populistische Tendenzen, insbesondere unter Donald Trump, greifen demokratische Grundwerte frontal an. Europa wird in der US-Politik zunehmend als Gegner gesehen.

In Europa ist in jüngster Zeit oft von strategischer Autonomie die Rede. Halten Sie das für eine realistische Option oder bleibt der Kontinent auf die USA angewiesen?

Europa ist wichtiger denn je als Sehnsuchtsort für jene, die Freiheit und Demokratie verteidigen. Strategische Autonomie ist deshalb unverzichtbar, und der „European Dream“ muss aktiv vorangetrieben werden. Es ist ohne Frage, dass Europas Verteidigungsfähigkeit und Diskursfähigkeit entscheidend sind für unsere Zukunft, das muss auch bei den friedensverwöhnten Europäern endlich ankommen. Wir müssen glaubhaft vermitteln, dass Freiheit und Frieden sinnstiftend und lebensstiftend sind, und eben deshalb auch verteidigungswürdig.

Viele europäische Staaten führen wieder Grenzkontrollen ein. Sind dies Anzeichen für eine Auflösung der EU?

Das sind durchaus besorgniserregende Signale. Die Ursachen liegen jedoch häufig im Inneren und nicht nur im Druck von außen. Die mangelnde Integration und Vermittlung demokratischer Werte sind ein zentrales Problem.
Blicken wir auf den Nahen Osten: Welche langfristigen Folgen haben Israels militärische Aktionen für die Region? Am Beispiel Naher Osten sieht man gut, dass Konflikte nicht nur regional stattfinden, sondern sich längst globalisiert haben. Die dort getroffenen Entscheidungen haben weitreichende Folgen – gerade weil das Thema geradezu sozialer Sprengstoff ist. Wir sehen ein gravierendes Anschwellen von Antisemitismus weltweit – aber auch eine Ent-Solidarisierung mit und Dehumanisierung von Palästinensern. Wir dürfen den Diskurs nicht den Extremisten überlassen, die versuchen, mit dem Thema aufzuwiegeln. Vielen geht es dabei nicht um Gaza – sonst würden sie auch die Rolle der Hamas beleuchten oder die Stimmen von Palästinensern unterstützen, die sich gegen die Hamas wenden und eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts suchen. Auf der Gegenseite wird der Regierung
Netanjahu geradezu ein Persilschein ausgestellt. Selbstverständlich müssen wir alles unternehmen, dass es eine lebenswerte Zukunft für die Palästinenser in Israel-Palästina geben kann.

Sie sind gerade aus Syrien zurückgekommen. Die neue syrische Übergangsregierung unter Präsident Ahmad Al-Sharaa versucht seit dem Sturz Assads die Kontrolle über das Land zu festigen, sieht sich aber mit zahlreichen Milizen, religiösen Gruppen und internationalen Akteuren konfrontiert. Wo sehen Sie Chancen für eine nachhaltigeLösung in Syrien?

Als ich jetzt kürzlich in Syrien war, habe ich eine Mischung erlebt zwischen Aufbruchsstimmung und Angst. Der Easy Way Out seitens der Amerikaner ist im besten Fall naiv. Man kann nicht unterschlagen und vergessen, wo
Al-Sharaa herkommt. Und dass man gleichermaßen Islamist, Dschihadist und Staatsmann sein kann, zeigt ja sein Beispiel. Es wird uns bitterböse vor die Füße fallen, wenn wir jetzt nicht realistisch auf Syrien blicken und weiterhin weg gucken, wenn Minderheiten bedroht sind. Es muss doch in unser aller Interesse sein, dass das Syrien der Zukunft eines ist, in dem alle Menschen vertreten sind – egal ob Drusen, Christen, Kurden, Alawiten oder Jesiden. Aus meiner Sicht ist der Fehler, dass der Westen sich seine Ansprechpartner nicht richtig aussucht. Die in Syrien begangenen Massaker, die jetzt auch von der UN bestätigt wurden, sorgen auch dafür, dass Fluchtbewegungen entstehen. Und wo sollen die Minderheiten hingehen, wenn die sich in Syrien nicht mehr sicher fühlen?

Iran bleibt ein Schlüsselfaktor in der Region. Wie wird sich das Machtgefüge zwischen Iran, den Golfstaaten und dem Westen in den kommenden Jahren entwickeln?

Das ist natürlich die Gretchenfrage, denn der Iran bleibt ein zentraler Akteur mit aggressiver Politik, insbesondere gegenüber Israel. Die Menschenrechtslage im Iran ist unverändert angespannt, wie die fortlaufenden Proteste der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung aber auch Streiks wegen der Versorgungskrisen im Land belegen. Die Islamischen Revolutionsgarden sollten – auch aus Sicht vieler Menschenrechtsorganisationen – endlich auf die EU-Terrorliste gesetzt werden. Und was das Atomprogramm angeht: Wenn man so tut, als könne man mit dem islamistischen Regime Realpolitik betreiben, ist das aus meiner Sicht naiv. Mit Blick auf die Golfstaaten bleibt abzuwarten, wie sich diese in Zukunft angesichts des Nahostkonflikts verhalten werden. Einen Teil-Erfolg haben die Hamas und die Islamische Republik insofern erzielt, als die Gespräche rund um die Abraham-Accords ins Stocken geraten sind und Normalisierungsbestrebungen in der arabischen Bevölkerung in der Region im Zuge des Gaza-Krieges an Zustimmung verloren haben dürften – auch weil die israelische Regierung Schritte unternimmt, die eine Zweistaatenlösung des Palästina-Konflikts untergraben.

Welche Rolle spielt die Türkei in der neuen Weltordnung?

Die Türkei agiert strategisch und nutzt ihre Position aus. Präsident Erdoğan wird dabei zunehmend zur Gallionsfigur für Teile der islamischen Welt. Doch auch hier spielen opportunistische Interessen eine Rolle: Die Türkei unter
Präsident Erdoğan soll als Verbündeter bei der Flüchtlingsabwehr fungieren. Zugleich führt ein NATO-Partner weiterhin schwere militärische Angriffe in kurdischen Gebieten, insbesondere in Nordostsyrien, bei denen Dörfer bombardiert werden und zahlreiche zivile Einrichtungen zerstört wurden. Warum wird diese Realität in politischen Debatten kaum thematisiert, und weshalb fordert kaum jemand ein Ende der Waffenlieferungen an die Türkei?

Viele Menschen haben Angst vor Russland. Halten Sie die Angst für berechtigt?

Selbstverständlich. Es muss inzwischen jedem klar sein, dass die Ukraine die Verteidigungslinie für ganz Europa ist. Die Ukraine verteidigt nicht nur sich, sondern uns alle. Und deshalb ist es unerträglich, dass teilweise jetzt eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird. Festzuhalten ist, dass die Politik vom Wandel durch Handel mit Russland gescheitert ist. Dass Parteien wie die AfD und das BSW gewählt werden, obwohl sie wiederholt Positionen vertreten, die Putins Propaganda entsprechen und seine Argumente übernehmen, ist ein deutliches Zeichen für die zunehmende Polarisierung und Vergiftung unserer Gesellschaft.

Welche Rolle spielt China?

Chinas Einfluss wächst immens, insbesondere im technologischen Bereich und verdeckt auch in politischen Fragen. Die Kontrolle von Informationen und Algorithmen etwa durch TikTok zeigt, wie weitgehend China die globale Agenda beeinflusst.

Frau Tekkal, Sie sprechen oft davon, dass man Zivilcourage global denken soll. Was bedeutet das konkret in Zeiten, in denen sich eben die Weltordnung verschiebt und viele Menschen das Gefühl von Ohnmacht verspüren?

Ich glaube, dass wir uns diese Ohnmacht und diesen Weltschmerz in Europa gerade nicht leisten können. Ich treffe regelmäßig Menschen in Kriegsgebieten, ob im Irak, in Kurdistan oder in Syrien, die viel mehr zu verlieren haben und trotzdem alles riskieren. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Wir leben in einem Land mit Recht auf freie Meinungsäußerung, warum nehmen wir so wenig Stellung, obwohl wir das dürften? Zivilcourage ist heute wichtiger denn je.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Trotz aller Herausforderungen wächst immer wieder Menschlichkeit selbst in den schwierigsten Regionen der Welt. Dies ist die Kraft, aus der sich Lebensmut und Hoffnung für die Zukunft speisen.

Was wünschen Sie sich von der Bundesregierung?

Mut, Realitätssinn und einen kompromisslosen Einsatz gegen Rassismus, religiösen Extremismus und alle Formen von Menschenfeindlichkeit.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Tekkal.

Das Interview führte Beate Wild, Leiterin Kommunikation der Atlantik-Brücke.

Düzen Tekkal ist eine deutsche Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Neben ihrer Arbeit als Filmemacherin engagiert sie sich in verschiedenen sozialen Projekten und ist Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins für humanitäre Hilfe HÁWAR.help.

 

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