Außen- und Sicherheitspolitik

„Eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung“

„Eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung“ Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer im Portrait, in Berlin am 16.10.2024. Foto: BMVg

Wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Weltordnung. Mehr als 30 Jahre haben wir in Europa im Frieden gelebt. Das ist vorbei. Wenn der Westen es nicht schafft, unsere freiheitlichen Werte zu verteidigen, werden wir zum Spielball der Autokraten.

Von Carsten Breuer

Internationale Konflikte und ihre Auswirkungen rücken mit zunehmender Wucht in unser Bewusstsein. Sie werden zu Gesprächsthemen nicht nur in Nachrichtensendungen, Talkshows und Umfragen, sondern auch am heimischen Küchentisch. Die Verteidigung unserer Sicherheit ist aber schon lange keine abstrakte Aufgabe mehr – sie ist eine konkrete Notwendigkeit. Das zeigt sich vor allem mit Blick auf die Ukraine. Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg dauert seit fast vier Jahren an. Es ist vor allem ein Abnutzungskrieg. Wir sehen High-Tech-Drohnen im Grabenkampf, archaische Gewalt bei Kriegsverbrechen in Butscha und Gefechte bis zum bitteren Ende in Bachmut. Putins neo-imperialistische Ambitionen haben bereits Hunderttausenden Menschen das Leben gekostet. Und kein Ende ist in Sicht. Russland hat schon vor geraumer Zeit systematisch auf Kriegswirtschaft umgestellt.

Mittlerweile gibt es für sein Militär mehr aus als für alle anderen Politikfelder. Waffen und Munition werden auf Hochtouren produziert oder aus alten Depotbeständen rustikal ertüchtigt. Und nicht alles geht direkt an die Front, sondern auch in neue militärische Verbände, die gerade entlang der gesamten NATO-Ostflanke aufgestellt werden. Auch personell bereitet sich Putin auf weitere Auseinandersetzungen vor: Bis Ende 2026 sollen die russischen Streitkräfte noch einmal deutlich wachsen, auf dann rund 1,5 Millionen Soldaten. Das sind doppelt so viele wie vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022. Militärischen Analysen zufolge könnte Russland bereits in wenigen Jahren in der Lage sein, NATO-Territorium großmaßstäblich anzugreifen.

Nicht unbedingt als Eroberungsfeldzug, sondern auch als verstärkte Provokation unmittelbar an der Schwelle zu einem offenen Krieg, um auf diese Weise das westliche Bündnissystem zu desavouieren, das Schutzversprechen der NATO zu untergraben und den eigenen Einflussbereich in Osteuropa auszuweiten. Das ist keine Vorhersage, aber eine plausible Möglichkeit. Wir müssen die Absichten und Ziele ernst nehmen, die hinter dieser massiven Hochrüstung stecken. Putin geht es nicht darum, sein Riesenreich um ein paar Quadratkilometer zu erweitern. Er will eine neue Weltordnung, und er will sie mit dem Mittel der Gewalt erreichen. 2029 betrachten Analysten als möglichen „Kulminationspunkt“, doch die Bedrohung ist schon heute real. Putin sieht sich längst in einem „(Schatten-) krieg“ gegen den Westen. Das belegt die steigende Zahl hybrider Angriffe, denen ganz Europa ausgesetzt ist.

Auch in Deutschland beobachten wir eine große Bandbreite systematischer Attacken im Graubereich zwischen Frieden und Krieg: Cyber-Angriffe auf kritische Infrastruktur, gekappte Datenkabel in der Ostsee, Planungen von Sabotage, drohnengestützte Spionage, Desinformationskampagnen in sozialen Medien, bis hin zu vereitelten Anschlagsplänen. All diese „Nadelstiche“ sollen das Vertrauen in unseren Staat erschüttern. Sie zielen darauf, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft(en) zu untergraben. Deutschland steht dabei besonders im Fokus – als wichtigster Unterstützer der Ukraine in Europa und als Drehscheibe für die Alliierten beim Verlegen an die NATO-Ostflanke. Die hybriden Angriffe treffen uns – bewusst skaliert und skalierbar – an der Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit, gezielt auf der Nahtstelle unterschiedlicher Zuständigkeiten. Und es ist entscheidend, an diesem Einfallstor koordiniert zu agieren. Das gilt national wie international.

„Das Machtstreben Russlands bleibt absehbar die grösste, weil unmittelbare Bedrohung für den euro-atlantischen Raum.“

Das Machtstreben Russlands bleibt absehbar die größte, weil unmittelbare Bedrohung für den euro-atlantischen Raum. Es ist aber bei Weitem nicht die einzige. Rings um den Erdball erfordern weitere Krisenherde unsere Wachsamkeit. Der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten – oder besser: die Konflikte – halten uns weiter in Atem und erfordern unser Handeln. Krisen überlappen sich, gehen ineinander über und verstärken sich gegenseitig. Und jeder Konflikt hat das Potenzial, global zu wirken. Das sehen wir zum Beispiel mit Blick auf Nordkorea, das Russland im Krieg gegen die Ukraine mit Soldaten und Waffen unterstützt. Auf dem Rückweg fließen dann nicht nur finanzielle Ressourcen, sondern auch militärisches Know-how und vor allem Waffenteile, darunter solche für Trägerraketen, die nuklear bestückt werden können. Tausende nordkoreanische Soldaten kämpfen mit gegen die Ukraine – und sterben für Russland.

„Wir müssen all die scheinbar getrennten Krisen und Kriegs­schauplätze dieser Welt als Ganzes betrachten“

Die Verluste sind immens, aber auf diese Weise sammeln nordkoreanische Soldaten Kampferfahrung. Die Feuertaufe gegen die Ukraine erhöht den Kampfwert der gesamten nordkoreanischen Streitkräfte. Klar ist schon jetzt: Die Destabilisierung erfolgt durch solche Wechselwirkungen nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien. An dieser vielfältigen Verflechtung wird deutlich: Wir müssen all diese scheinbar getrennten Krisen und Kriegsschauplätze dieser Welt als Ganzes betrachten, aus einer 360-Grad-Perspektive. Wir müssen die Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Zusammenhänge erkennen und diskutieren, auf allen unterschiedlichen Handlungsebenen. Militärisch ausgedrückt: Wir müssen das strategische Lagebild konsolidieren, die nötigen Schlüsse ziehen – in der nötigen Geschwindigkeit. Und die ist derzeit ziemlich hoch. Wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Weltordnung. In dieser Phase des Umbruchs trägt der Westen, tragen wir die Verantwortung, unsere freiheitlichen Werte mit Entschlossenheit zu verteidigen. Unterbleibt dieses Engagement, riskieren wir, zum Spielball der Autokraten zu werden. Dabei geht es nicht allein um moralische Verpflichtung, sondern um ein fundamentales realpolitisches Eigeninteresse.

Eine Welt, in der nicht mehr die Stärke des Rechts regiert, sondern das Recht des Stärkeren, können und dürfen wir nicht hinnehmen. Und die Welt schrumpft mit Blick auf die globalen Herausforderungen: Krisen und damit auch mögliche Lösungen rücken immer näher zusammen. Das fordert uns in einem Maße heraus, wie wir es uns bisher nicht vorstellen konnten. Und es wird nicht einfacher werden. Deswegen ist Einsatzbereitschaft – Readiness – heute nicht nur unsere, sondern die Währung in der gesamten NATO. Mehr als 30 Jahre haben wir in Europa im Frieden gelebt. Das ist vorbei. Und es ist schwer, sich daran zu gewöhnen. Aber wir haben keine Wahl. Glaubwürdige Abschreckung ist unser „Best-Case“-Szenario. Beim NATO- Gipfel in Den Haag im Juni 2025 haben sich alle 32 Alliierten darauf geeinigt, wie und womit sie sich in Zukunft militärisch aufstellen wollen. Sie haben verbindlich festgelegt, wer an welchen Stellen Verantwortung übernimmt.

Deutschland stellt nach den USA das zweitgrößte sogenannte Fähigkeitspaket. Wir sind auf dem Weg, der Motor der Verteidigung Europas zu werden. Das bedeutet etwa, dass wir neue Kampftruppenverbände aufstellen werden; dass wir die industrielle Basis verbreitern müssen; dass wir unsere multinationalen Kooperationen stärken. Schließlich bedeutet es auch, dass wir künftig 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung sowie 1,5 Prozent für militärische Infrastruktur ausgeben müssen. Mit Hilfe des Sondervermögens haben wir viele Dinge bereits auf den Weg gebracht: Wir haben Panzer bestellt, Schiffe, Flugzeuge, Drohnen. In diesem und im nächsten Jahr erwarten wir die wesentlichen Zuläufe; Rüstungsgüter liegen leider nicht im Regal im Baumarkt um die Ecke. Mit der Grundgesetzänderung, die Verteidigungsausgaben oberhalb von 1 Prozent des BIP aus der Schuldenbremse ausklammert, haben wir nun einen weiteren großen Schritt gemacht, um die gewachsene Bandbreite an Aufträgen schultern zu können.

Wir haben Sicherheit vor die Klammer gezogen. Wir haben jetzt kein zeitlich begrenztes Sondervermögen mehr, sondern ein ungedeckeltes Budget. Ungedeckelt bedeutet jedoch nicht grenzenlos. Wir müssen mehr als je zuvor jeden einzelnen Cent gegenüber dem Parlament rechtfertigen. Das können wir. Und das werden wir. Wir haben bereits priorisiert, welche Fähigkeiten die Bundeswehr jetzt am dringendsten braucht. Das sind unter anderem Systeme zur Luftverteidigung sowie Munition und Mittel zum elektronischen Kampf. Wichtig ist, dass nicht nur die Bundeswehr jetzt Planungssicherheit hat, sondern auch die Industrie und Start-ups, die ihre Kapazitäten erst einmal hochfahren müssen. Ebenso wichtig ist es, schon jetzt den Blick weit über 2029 hinaus zu werfen, auf die Kriegführung der Zukunft. Deswegen müssen wir in mindestens zwei Kategorien denken und planen: Kurzfristig, bis 2029, geht es vorrangig um Einsatzbereitschaft. Und langfristig, weit über 2029 hinaus, geht es um Vorausschau, um Flexibilität, um das Schritthalten mit disruptiven Entwicklungen.

Denn wir haben plötzlich neue technische Möglichkeiten, die die eingefahrenen Wege von Technik-Entwicklung und militärischer Strategie verändern. Früher war das Militär Treiber von technologischen Entwicklungen – heute ist es genau anders herum: Technischer Fortschritt erzeugt strategische Herausforderungen. Das wird langfristig auch die Entwicklung unserer Doktrin beeinflussen und dazu führen, dass wir Krieg anders denken müssen, bis auf das Gefechtsfeld. Der Innovationszyklus für Drohnen in der Ukraine zum Beispiel beträgt etwa zwei Wochen. Ähnlich agil müssen wir schon in Friedenszeiten sein – ohne dass es uns ein Krieg vorgibt. Die Bedrohungen auf dem Schlachtfeld zwingen Streitkräfte zur ständigen Anpassung. Deshalb müssen wir auch in der Rüstungsbeschaffung flexibler, agiler und als Folge daraus schneller werden. Wo immer nötig, müssen wir auch neue Wege beschreiten. Wir müssen uns fragen: Wohin schauen wir heute nicht – was wissen wir noch nicht, was können wir heute noch nicht fassen?

Aber auch: Wie stellen wir sicher, dass die Bundeswehr zum einen Technologietreiber wird und gleichzeitig schnell und verlässlich neue Technologien aufnehmen kann? Kooperationsmöglichkeiten gibt es etwa bei der Digitalisierung und Flexibilisierung von Verteidigungssystemen durch softwarebasierte Steuerung, bei Software Defined Defence. Auch der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Analyse von Daten oder zur Unterstützung militärischer Entscheidungen ist ein Feld, auf dem Streitkräfte auf Forschung und Entwicklung in Wirtschaft und Industrie angewiesen sind. Deshalb muss es einen engen Schulterschluss zwischen Wirtschaft und militärischer Strategieentwicklung geben.

„Die Verantwortung für unsere Sicherheit und Freiheit kann nicht allein auf uniformierten Schultern liegen. Das ist eine aufgabe für die gesamte Gesellschaft.“

Klar ist, der aktuellen Bedrohungslage können wir nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung begegnen, mit vereinten Kräften, staatlichen und privaten. Streitkräfte können immer nur so stark sein, wie es die Rüstungsindustrie ist, die hinter ihnen steht. Hier geht es nicht nur um die Fähigkeit zur Innovation, sondern auch um die Bereitschaft, Risiken zu tragen – für ein höheres Gut.

Soldatinnen und Soldaten werden dafür ausgebildet, dass sie Risiken eingehen. Sie müssen kämpfen können und gewinnen können. Weil sie gewinnen müssen. Das gilt nicht nur für Soldaten. Die NATO hat derzeit rund 500.000 Frauen und Männer in hoher Bereitschaft. Für mich aber ist genauso klar: Die Verantwortung für unsere Sicherheit und Freiheit kann nicht allein auf uniformierten Schultern liegen. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Nur gemeinsam können wir unser Land verteidigen, nur gemeinsam können wir abschrecken. Wir müssen ganzheitlich denken und handeln, schon jetzt, in Friedenszeiten. Wir müssen uns enger und stärker verzahnen. Das schafft die Basis für Resilienz. Eine kriegstüchtige Bundeswehr ist dabei nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite brauchen wir ebenso resiliente zivile Strukturen, sprich: eine wehrhafte Gesellschaft.

Beide zusammen schaffen die Grundvoraussetzungen glaubwürdiger Abschreckung. Wir Soldaten sind vielleicht diejenigen, die Gefechte gewinnen – aber modernen Kriegen muss man durch eine und mit einer Gesellschaft begegnen. Die Wirtschaft hat daran einen großen Anteil. Je besser und schneller wir unsere Streitkräfte ausrüsten können, umso besser werden wir abschrecken können. Und wir müssen abschrecken. Je glaubwürdiger wir abschrecken, desto größer sind unsere Chancen, die Freiheit zu schützen, die uns so lieb und teuer ist. Umso höher sind die Chancen, dass wir auch in Zukunft so leben können, wie wir jetzt leben – und dass wir Krieg in Europa verhindern. Diese Kraftanstrengung gelingt uns nur gemeinsam – getragen von der Gewissheit, dass ein Leben in Freiheit und Sicherheit dies wert ist.

Über den Autor: Carsten Breuer ist ein General des Heeres der Bundeswehr und seit dem 17. März 2023 der 17. Generalinspekteur der Bundeswehr. 

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