Außen- und Sicherheitspolitik

Gegen den “Immer-Schlimmerismus“

Eine Rezension von Thomas Kleine-Brockhoffs "Die Welt braucht den Westen"
Gegen den “Immer-Schlimmerismus“

von Sigmar Gabriel

Thomas Kleine-Brockhoff: Die Welt braucht den Westen – Neustart für eine liberale Ordnung

Mit seinem Aufruf für einen Neustart der liberalen Ordnung setzt Thomas Kleine-Brockhoff einen Kontrapunkt gegen den vielstimmigen Chor derjenigen, die das Ende des Westens und der liberalen internationalen Ordnung herbeireden. Statt sich der weitverbreiteten Tendenz des „Immer-Schlimmerismus“ anzuschließen, offeriert Kleine-Brockhoff eine Streitschrift, in der er nicht nur das intellektuelle Gerüst für einen zeitgemäßen Liberalismus entwirft, sondern auch darlegt, dass es bei weitem nicht entschieden ist, dass der Westen dem Untergang geweiht ist oder die liberale internationale Ordnung vor ihrem Zerfall stünde.

Stattdessen ist Kleine-Brockhoff’s Streitschrift ein Aufruf an die demokratischen Kräfte der Mitte die liberale Demokratie gegen ihre Verächter zu verteidigen und zugleich vor Maximalisten aus den eigenen Reihen zu schützen. Mit dem Konzept des robusten Liberalismus entwirft er ein gedankliches Gerüst dafür, wie sich der Westen aus sich selbst heraus erneuern kann. „Es denkt den Westen neu, indem es sehr wohl auf den Prinzipien der Freiheitlichkeit besteht, zugleich aber die liberale Überdehnung beendet und den demokratischen Bekehrungseifer einhegt. Robuster Liberalismus setzt auf einen Universalismus, der weniger verspricht und mehr hält“, schreibt Kleine-Brockhoff über sein Konzept.

Die Rolle der USA: Einfluss des linearen Denkens

Vieles, so der Autor, wird für die Zukunft der liberalen internationalen Ordnung davon abhängen, ob die USA ihre Rolle als wohlmeinender Hegemon dieser Ordnung in Zukunft wieder einnimmt oder dauerhaft verlässt. Unter Trump wird sie es jedenfalls nicht tun – und danach?

In dieser Frage attestiert Kleine-Brockhoff der deutschen Politik lineares Denken. Es herrsche die Annahme vor, dass auch der Nachfolger von Donald Trump im Amt des U.S. Präsidenten den Kurs von Donald Trumps Außenpolitik „die Zerstörung der liberalen Ordnung zugunsten einer Welt machtbasierter Großmächtekonkurrenz“ fortsetzen wird.

Dieses lineare Denken aber, warnt Kleine-Brockhoff, könnte dazu führen, dass ein Abgrenzungs- und Abwendungsdiskurs angekurbelt wird, und womöglich der Schluss gezogen werde Deutschland und ganz Europa müsse sich schleunigst strategisch umorientieren oder doch zumindest ein neues, differenzierendes und distanzierteres Verhältnis zu den Vereinigten Staaten schaffen. Es wird um »Gegengewichte« und »rote Linien« gehen.

Kleine-Brockhoff kann der Kontinuitätsthese wenig abgewinnen. Er glaubt nicht, dass die Trumpsche Außenpolitik sich fortsetzt, weil sie vollständig den wesentlichen Erfolgsfaktor amerikanischer Weltpolitik übersieht: Amerika hat Freunde und Partner. Vor allem aber übersieht sie die Logik der Macht im Kampf um das Präsidialamt. So prognostiziert Kleine-Brockhoff: „Der nächste Präsident, egal welcher Partei er angehört, wird Dinge anders machen, korrigieren, reparieren wollen. Und er wird das begründen, indem er sich vom imperialen Gestus seines Vorgängers absetzt. Dessen Politik dürfte er entweder beschweigen oder als Verirrung und Traditionsbruch brandmarken“.

Deutschland und Europa dürfen die Hoffnung auf diesen Moment nicht aufgeben – sich aber auch nicht der Illusion hingeben, dass die „guten, alten Zeiten“ der Ära vor Trump wiederkommen. Dass die Vereinigten Staaten für Europa wieder ein gleichgesinnter Verbündeter werden, scheint Kleine-Brockhoff „sehr wohl möglich, sogar wahrscheinlich, nicht aber dass sie wieder – wie einst – All-Beschützer und All-Schiedsrichter bei innereuropäischen Konflikten werden“.

Statt die transatlantische Partnerschaft aufzugeben, sollte Deutschland und Europa „eine Politik betreiben, die zwar in wichtigen Fragen auf Distanz zur gegenwärtigen Politik des Weißen Hauses bleibt, die aber zugleich Brücken in die Zukunft baut. Voraussetzung dafür wäre allerdings, nicht vorher jene Brücken einzureißen, die später noch gebraucht werden könnten“. Dazu gehört für Kleine-Brockhoff vor allem, dass Deutschland seine „mehrfach gegebenen multilaterale Verpflichtungen innerhalb der NATO“ nicht länger „ignoriert“.

Hinzu kommt, dass das Zeitalter des Eurozentrismus endgültig vorbei ist. Europa muss sich darauf einstellen, dass es für die USA nicht mehr entscheidend ist, was hier passiert. Das werden, auf absehbare Zeit, der Pazifik und vor allem China sein. Welche Position Deutschland und Europa in Bezug auf China einnehmen, ist dabei aus amerikanischer Perspektive entscheidend. Kleine-Brockhoff sieht hier vor allem das gemeinsame Interesse an fairen Handelsbedingungen als einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt – und eine von einer großen Gruppe gleichgesinnter Staaten vorgetragenen Klage bei der Welthandelsorganisation gegen China wegen unfairer Handelspraktiken.

Demütig und dennoch kraftvoll

Kleine-Brockhoffs robuster Liberalismus verlangt auch eine nüchterne Betrachtung dessen, was man zu erreichen sucht und dessen, was man wirklich erreichen kann. Denn für den Autor steht fest: Gerade hier hat die Idee des expansiven Liberalismus, wie er sich nach dem Ende des Kalten Krieges auf beiden Seiten des Atlantiks verbreitete, wenige Erfolge zu vermelden. Schlimmer noch, Interventionen im Namen der Menschenrechte förderten die Widersprüchlichkeiten und Grenzen des universalistischen Anspruchs zu Tage, die heute von den Herausforderern der liberalen internationalen Ordnung immer wieder genannt werden.

Aber die „liberale Überdehnung“, wie es Kleine-Brockhoff nennt, ist nicht nur an ihren Misserfolgen beim Export der demokratischen Idee erkennbar. Vielmehr ist sie auch daran erkennbar, dass sie nach innen an Attraktivität verloren hat. So, sehr, dass es den Anschein hat „als sei das Gebäude der westlichen Ordnung nicht stabil, weil in der Hoffnung auf ewigen Sonnenschein nur ein paar Sommerhütten gebaut wurden. Nun findet man sich plötzlich in Herbststürmen wieder: erst in einer Finanzkrise, dann einer Euro-, einer Sicherheits-, einer Flüchtlings-, schließlich in einer Handelskrise. Und über allem in einer dauerhaften Vertrauenskrise der liberalen Demokratie.“

Die, findet Kleine-Brockhoff, lässt sich auch durch die Zögerlichkeit der Politik erklären. Die einzige Ausnahme im Reigen der westlichen Spitzenpolitiker ist für ihn Emmanuel Macron. Der französische Präsident hat eine kraftvolle Vision für die Zukunft entwickelt. Und genau darum muss es laut Brockhoff gehen: „Es muss deutlich werden, dass eine Politik der Mitte reaktions- und handlungsfähig ist und internationale Interdependenz keine Bedrohung für die Bürger darstellt. Politik muss neu beweisen, dass grenzüberschreitende Zusammenarbeit vermag, Probleme zu lösen, die sonst unlösbar bleiben.“

Robuster Liberalismus

Hierfür aber bedarf es das Konzept des Robusten Liberalismus: „eine zeitgemäße Interpretation des Liberalismus in der Phase seiner Bedrohung von innen und von außen: selbstkritischer und streitlustiger, resilienter und abwehrbereiter, prinzipien- und regeltreuer, aber auch bescheidener und sich seiner Grenzen bewusster. Robuster Liberalismus denkt den Westen neu, indem er überschießende Ideen zurückstutzt und die liberale Überdehnung der vergangenen Jahrzehnte beendet, seinen Ideenkern aber umso entschiedener bewahrt, vertritt und verteidigt.“

Macron allein wird jedoch wenig ausrichten können. „Gebraucht wird stattdessen eine Kohorte ähnlich gesinnter Führungsfiguren überall in der westlichen Welt, eine Allianz der Internationalisten. Diese Alliierten sollten sich an Prinzipien und Haltungen orientieren können, die sie miteinander verbinden und die sie in ihren Staaten adaptieren und lokal interpretieren.“  Kleine-Brockhoff ist überzeugt, dass die Demokratie imstande ist, sich selbst neu zu erfinden. Sie habe sich auch in der Vergangenheit schon als äußerst anpassungsfähig gezeigt.

Für ihn erlebt der Westen derzeit einen „Häutungs- und Lernprozess; eine neue Auseinandersetzung um Wesen, Bedeutung und Wirkung liberaler Werte in der internationalen Politik.“ Dabei warnt er davor, sich aus der Schusslinie der Kritik der Antiliberalen zu nehmen, aus Angst davor sie könnten treffen: „ Statt sich abzuwenden oder zuzuschauen, sollten sich jene, denen die politischen Werte der Aufklärung etwas bedeuten, mitten hineinbegeben ins Getümmel.“

Kritik

Thomas Kleine-Brockhoffs Aufruf für einen Neustart der liberalen Ordnung macht klar – es gibt wenig Gründe, in den Abgesang des Westens einzustimmen. Nicht nur, weil es nicht stimmt, sich liberale Institutionen der Weltpolitik derzeit noch als widerstandsfähig erweisen, oder weil es nicht klar ist, dass ein Nachfolger von Donald Trump seinen destruktiven Isolationismus fortsetzt. Sondern auch, weil der Liberalismus und die Demokratie, aus sich selbst heraus die Kraft erzeugen kann, sich auf veränderte Rahmenbedingungen einzustellen, ohne sich selbst dabei aufzugeben. Autokratien hingegen kennen nur den Wandel per Verordnung.

Mit seinem Konzept des robusten Liberalismus gibt Kleine-Brockhoff all denjenigen, die sich für den Neustart der liberalen Ordnung einsetzen möchten ein intellektuelles Gerüst wie dieser Neustart gelingen kann.

Vieles in der Analyse der aktuellen Lage von Kleine-Brockhoff trifft zu. Das überrascht nicht, ist der Autor doch als ehemaliger Korrespondent für DieZeit, Leiter des Planungsstabes bei Präsident Gauck und aktuell Leiter des Berliner Büros des German Marshall Fund ein exzellenter Kenner des politischen Pulses in Berlin. So kreidet er auch zurecht immer wieder die besonders in Deutschland stark ausgeprägte Tendenz zu linearem Denken an, aus dem Pfadabhängigkeiten im Handeln entstehen. Dadurch wird aber die Politik starr, und kann auf nicht vorhergesehen oder vorhersehbare Ereignisse nicht reagieren.

Allerdings: theoretische Konzepte selbst schaffen Pfadabhängigkeiten und stellen häufig den Rahmen des linearen Denkens. Auch wenn Theorien den Zweck haben die Komplexität der Realität zu reduzieren – häufig verschleiern sie die Sicht auf wesentliche Veränderungen und Fortschritt, und werden unbemerkt zum Selbstzweck. Genau diesen Determinismus beschreibt Kleine-Brockhoff als eine der Ursachen für die aktuelle Kritik am Liberalismus. Wie sich der Robuste Liberalismus dieser Falle entziehen will bleibt jedoch leider unbeantwortet.

Offen ist auch, wo der Mensch im Konzept des Robusten Liberalismus bleibt. Auch wenn sein Ausgangspunkt die Annahme ist, dass es darum geht, das Schlimmste zu verhindern und nicht darum das Beste zu erreichen, er also die Natur des Menschen als Ausgangspunkt hat –  seine Prinzipien sind abstrakt und rational. Gemeinschaft und Gemeinschaftswesen aber bestehen eben aus dem Zusammenleben von Menschen. Erst dies macht die Gemeinschaft erfahrbar und schafft Vertrauen – eine nicht quantifizierbare Emotion. Dem Robusten Liberalismus, wie Kleine-Brockhoff ihn vorschlägt aber fehlt ein Prinzip, dass die Erfahrung dieser Gemeinschaft aufgreift, ohne dabei ausgrenzend und dennoch nicht grenzenlos zu sein: Solidarität.

All das aber ist Rosinenpickerei in einem Werk, das ein sehr gelungener Weckruf dafür ist, sich nicht damit aufzuhalten, mit dem Finger auf andere zu zeigen, oder vor lauter Zukunftsangst eine scheinbar rosige Vergangenheit herbeizusehnen; sondern sich mutig ins Getümmel zu stürzen und sich für eine neue liberale Ordnung einzusetzen. Denn dem ist nichts hinzuzufügen.

Thomas Kleine-Brockhoff: Die Welt braucht den Westen. Neustart für eine liberale Ordnung
Edition Körber
208 Seiten; ca. 18 Euro
ISBN: 978-3-89684-275-6

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