Außen- und Sicherheitspolitik

„Je stabiler unsere Demokratien sind, desto weniger können uns Terroristen anhaben“

Interview mit Sigmar Gabriel zu 9/11 und den Folgen
„Je stabiler unsere Demokratien sind, desto weniger können uns Terroristen anhaben“ Foto: Jesse Mills/Unsplash

Herr Gabriel, am 11. September 2001 waren Sie niedersächsischer Ministerpräsident. Haben Sie, als Sie die Nachricht von den Anschlägen in den USA damals erreichte, schon geahnt, welche Auswirkungen sie auf die Welt haben würden? 

Ich erinnere mich noch ganz genau an diese Situation, weil ich einen israelischen Freund zu Gast in der Niedersächsischen Staatskanzlei hatte, mit dem ich am 12.9. meinen Geburtstag feiern wollte. Daraus wurde dann natürlich nach den Terrorattentaten von New York nichts. Wir saßen in meinem Büro, als ein Mitarbeiter hereinstürmte und uns aufgeregt zurief, wir mögen doch den Fernseher anschalten. Als wir dann live die Bilder sahen, haben wir es erst für irgendeinen Katastrophen-Spielfilm gehalten. Als wir realisierten, dass wir gerade Zeugen dieser wahnsinnigen Attentate waren, saßen wir wie vermutlich alle anderen Menschen fassungslos und entsetzt vor diesen Bildern.

Als Reaktion auf die von Al-Qaida orchestrierten Anschläge marschierten die USA und ihre Verbündeten im Oktober 2001 in Afghanistan ein; die NATO rief erstmals den Bündnisfall aus. Die Taliban haben nun, nach dem Abzug der NATO-Truppen vor wenigen Wochen, unmittelbar wieder die Kontrolle über das Land übernommen. Was wurde mit dem 20 Jahre währenden Einsatz in Afghanistan erreicht? 

Der UN-Sicherheitsrat hatte ja nach den Attentaten ein Mandat für einen internationalen Militäreinsatz in Afghanistan zur Zerschlagung der Terrorstrukturen von Al Qaida beschlossen. Das war schon ein bemerkenswerter Beschluß, denn normalerweise ist es sehr schwer, im UN-Sicherheitsrat Vetomächte wie Russland, USA und China auf eine Linie zu bekommen. Diesem Beschluß folgend und unter Berufung auf den Beistandsfall im Artikel 5 des NATO-Vertrages hat sich auch Deutschland mit der Bundeswehr an diesem Einsatz beteiligt. In zum Teil schweren Kämpfen mit vielen Toten und Verletzten auch in der Bundeswehr gelang es schließlich, die Strukturen von Al Qaida tatsächlich zu zerschlagen und ihren Anführer, Osama Bin Laden, im Jahr 2011 auszuschalten. Insofern ist der Auftrag der UN erfüllt worden. Was der internationale Militäreinsatz nicht geschafft hat und vielleicht nie schaffen konnte, war in Afghanistan ein „Nation Building“ mit dem Aufbau demokratischer Strukturen nach dem Vorbild westlicher Gesellschaften zu betreiben.

Je länger ein Krieg dauert, desto tiefer graben sich Hass und Rachegelüste in die Seelen der Betroffenen ein. Das Ergebnis sehen wir heute.

Die Idee war natürlich, nach der Zerschlagung von Al Qaida das Land nicht einfach sich selbst zu überlassen, sondern in einigermaßen stabile staatliche Strukturen zu überführen. Deutschland gehörte zu den wichtigsten Befürwortern dieses „nation building“. Doch wie schon im Irak zeigte sich auch in Afghanistan, dass dieser idealistische Ansatz nicht zu erfüllen war. Wer die Soldaten der Bundeswehr und die Polizisten, die wir vor Ort zur Ausbildung hatten, befragte, wurde auf die Instabilität dieser neuen „Nation Afghanistan“ immer hingewiesen. Das war wahrlich kein Geheimnis. In fast mittelalterlichen Stammesstrukturen eine demokratische Gesellschaft zu etablieren erwies sich als unmöglich. Es fehlte schlicht an Demokraten. Die gab es natürlich insbesondere unter Frauen und in Großstädten. Aber ohne den Rückhalt der internationalen Streitkräfte waren sie nicht in der Lage, das Land zu stabilisieren.

Als der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck nach einer Afghanistan-Reise im Jahr 2007 die Überzeugung vertrat, man müsse auch mit den Taliban reden, wurde er vor allem hier in Deutschland ausgelacht. Es wäre klüger gewesen, dem damaligen Ratschlag zu folgen und die Taliban einzubeziehen. Natürlich wäre das weder leicht noch zwingend erfolgreich gewesen. Aber es hätte eine Chance gegeben, den Krieg zehn Jahre früher zu beenden. Je länger ein Krieg dauert, desto tiefer graben sich Hass und Rachegelüste in die Seelen der Betroffenen ein. Das Ergebnis sehen wir heute. Und ob die neue Talibanherrschaft nicht erneut eine Basis für internationalen Terrorismus schaffen wird, ist offen. Es gibt in den Talibanbewegung Teile, die das auf keinen Fall wollen. Aber es gibt eben auch andere.

Wo sehen Sie heute die größten Chancen für die Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus? Was können die USA und Europa voneinander lernen, wenn es darum geht, die tieferen Ursachen des Terrorismus präventiv zu bekämpfen?

Wir sind dem internationalen Terrorismus nicht hilflos ausgeliefert und die letzten Jahre haben ja gezeigt, dass wir zumindest hier in Europa in der Lage sind, Attentate zu verhindern. Aber eines stimmt leider auch: Absolute Sicherheit gibt es nicht und auch bei uns kann es wieder zu Attentaten kommen. Übrigens nicht nur von islamistischen Attentätern, sondern, wir wir gesehen haben, insbesondere auch von Rechtsradikalen.

Das wichtigste Mittel im Kampf gegen Fundamentalismus und Terror ist eine resiliente und starke demokratische Gesellschaft.

Das wichtigste Mittel im Kampf gegen Fundamentalismus und Terror ist eine resiliente und starke demokratische Gesellschaft. Denn das Ziel dieser Attentate ist ja immer, in einer perversen Strategie Chaos zu stiften, um am Ende die Demokratie ins Wanken zu bringen. Je stabiler unsere Demokratien sind, desto weniger können uns Terroristen anhaben. Und natürlich geht es auch um Vorbeugung: die Arbeit mit Jugendlichen aus dem radikal-religiösen Milieu, bessere Bildungs- und Aufstiegschancen für jugendliche Zuwanderinnen und Zuwanderer, die Auflösung radikal-islamischer Moscheegemeinden und natürlich auch der Austausch zwischen den Geheimdiensten, damit wir wissen, wer sich in unseren Ländern bewegt – etwas, das wir Deutschen mit Skepsis betrachten und das trotzdem nötig ist. Vorbeugung und Repression sind im Kampf gegen den Terror zwei Seiten der gleichen Medaille.

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