Was kommt als Nächstes?
Hinsichtlich eines künftigen Europas müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, die Hegemonie des Westens könne fortgesetzt werden. Ein „altliberales“ Europa im Fahrwasser der USA wird es nicht mehr geben, auch wenn sich das viele aus Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und politischem Bedeutungsverlust wünschen würden.
Von Sigmar Gabriel und Julia Friedlander
Im Oktober hat eine Delegation der Atlantik-Brücke das NATO-Hauptquartier in Brüssel besucht. In unseren Gesprächen vor Ort haben wir die derzeit wichtigsten Herausforderungen für die Allianz, den Zustand der transatlantischen Partnerschaft sowie Deutschlands neues Engagement zur Stärkung seines Verteidigungssektors diskutiert. Zudem erhielten wir Einblicke in die Möglichkeiten, wie das Start-up-Ökosystem zum Aufbau der deutschen Verteidigung beitragen kann, indem es dem Staat bestimmte Technologien bereitstellt. Nach dem Austausch war uns allen klar, dass die Welt, in der wir es uns in den vergangenen Jahrzehn ten bequem gemacht haben, nicht mehr existiert. Aber wir haben auch festgestellt, dass diese neue Welt gleichzeitig den Wunsch weckt, Probleme zu lösen und Neues zu erfinden.
Das Hauptaugenmerk der NATO liegt nun wieder darauf, den potenziellen Gegner Russland abzuschrecken, damit er Europa nicht angreift. Es fühlt sich ein wenig so an, als wären wir wieder im Kalten Krieg. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, das steht fest. Doch was, werden Sie sich fragen, kommt als Nächstes?
Das transatlantische Verhältnis bleibt angespannt
Die transatlantische Partnerschaft ist unter US-Präsident Donald Trump deutlich angespannt, da grundlegende Interessen und Prioritäten immer weiter auseinanderklaffen. Insbesondere die Einführung von Sonderzöllen und die rigide „America First“-Handelspolitik belasten die wirtschaftlichen Beziehungen erheblich. Zugleich stellt Trump die Verteidigungsfähigkeit Europas offen infrage. Selbst nach einer Anhebung der Verteidigungsausgaben der europäischen Partnerländer auf fünf Prozent des BIP herrscht große Unsicherheit über die künftige Rolle der USA in der NATO.
Europa dagegen, stärker mit sicherheitspolitischen Herausforderungen – wie etwa Russlands wiederholten Provokationen an der NATO-Ostflanke – konfrontiert, muss seine Verteidigungsfähigkeit schnellstmöglich stärken, gerät aber zugleich innenpolitisch unter Druck – nicht zuletzt durch ein Erstarken der Rechtspopulisten. Nicht nur verteidigungspolitisch, auch wirtschaftlich ist Europa nach wie vor abhängig vom transatlantischen Raum. Es sieht so aus, als würde die strategische Ausrichtung der EU auch in Zukunft fragmentiert bleiben. Pragmatische Kooperationen bei sicherheitspolitischen Krisen sind vorüber gehend zwar denkbar, langfristig aber durch innereuropäische Divergenzen zu stark belastet.
Russland und die Herausforderung an die NATO
Putin sieht derzeit keinen Anlass, seine Strategie zu ändern. Frieden in der Ukraine wird es vermutlich nicht so schnell wie erhofft geben. Russland wird auch in den nächsten Jahren als Aggressor im Mittelpunkt europäischer Sicherheitsfragen bleiben. Mit wiederholten Grenzverletzungen, wie den Drohnenangriffen auf NATO-Territorium, testet Moskau die politisch-militärische Solidität des Westens und setzt auf hybride Kriegsführung.
„Deutschland vollzieht derzeit einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel.“
Letztlich möchte Moskau eine regionale Einflusszone schaffen, die sich an den Umrissen der Sowjetunion orientiert. Das strapaziert nicht nur die NATO, sondern prägt auch die europäische Zukunftsplanung. Gleichzeitig stärkt Russland seine Kooperation mit Ländern wie Nordkorea und China, um multipolare Machtblöcke gegen den Westen zu formen. Vor diesem Hintergrund vollzieht Deutschland derzeit einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz strebt in den kommenden Jahren an, die Bundeswehr zur konventionell stärksten Armee Europas auszubauen – eine strategische Zielsetzung, die durch ein erheblich größeres Budget, umfassende Strukturreformen und die Rekrutierung neuer Soldatinnen und Soldaten flankiert wird.
Der Globale Süden und die neue Unabhängigkeit
Im Globalen Süden werden Führungsansprüche laut, die der Neuverteilung der Wirtschaftsmacht entsprechen. Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens wenden sich zunehmend eigenständigen Entwicklungswegen und Partnerschaften zu. Natürlich ist hier China ein Ankerpunkt, der seine Infrastrukturprojekte und Handelsverbindungen massiv ausbaut. Aber auch die aggressive Handels- und Migrationspolitik Donald Trumps zwingt andere Länder zu neuen Kooperationen. Ende August trafen sich der chinesische Präsident Xi Jinping, der russische Präsident Wladimir Putin sowie der indische Premierminister Narendra Modi in China. Die drei Länder versprachen sich eine vertiefte geopolitische Zusammenarbeit. Wir wissen nicht, ob dieses antiwestliche Signal den Beginn eines echten Realignments zwischen Indien und China markiert. Wir sehen aber, dass ein Land wie Indien seine geostrategische Balance mit einem radikalen Pragmatismus zu wahren versucht, der europäische Ansätze wertegeleiteter Außenpolitik nicht wie ein Programm von gestern, sondern aus dem vergangenen Jahrhundert erscheinen lässt.
Naher Osten: Instabilität und neue Machtordnungen
Der Nahe Osten – allen voran Israel, Iran und Gaza – bleibt ebenfalls ein Ort der geopolitischen Unruhe, allerdings mit sich dynamisch verändernden Einflussbereichen. Während die USA trotz der Verbundenheit zu Israel vor allem die Nähe zu den Golfstaaten suchen, gewinnen regionale Mächte wie Saudi-Arabien und die Türkei weiter an geopolitischer Bedeutung. Die Konstante in dieser sich ständig verändernden Region zwischen Syrien und dem Jemen bleibt, dass sie sich in einem Unruhezustand befindet, in einem Ungleichgewicht, in dem politische Macht jederzeit fragmentiert werden und sich neu zusammensetzen kann. In diesem Machtkarussell sollte man die diplomatische Rolle Deutschlands nicht unterschätzen. Im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit steht dabei weiter Israel, das sich nach wie vor mit einer andauernden Instabilität im Gazastreifen konfrontiert sieht. Für Europa stellt sich insbesondere die Frage, wie der fragile Waffenstillstand erhalten und ein humanitärer Zugang gesichert werden kann. Deutschland bekennt sich weiterhin ausdrücklich zur Sicherheit und Existenz Israels als Teil der Staatsräson, wie es auch Bundesaußenminister Johann Wadephul unterstreicht. Gleichzeitig fordern zahlreiche Stimmen aus Politik und Gesellschaft eine differenziertere Debatte angesichts der humanitären Not- lage in Gaza und des wachsenden politischen Drucks innerhalb Europas.
KI und die Angst vor einem Crash
Der Blick in die Zukunft muss allerdings in diesen Tagen nicht nur in die politische, sondern auch – und vor allem – in die technologische Welt gehen. Die rasante Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) enthält das Versprechen eines rasanten technologischen Fortschritts, der auch Implikationen für die geopolitische Machtverteilung hat. Gerade im Verteidigungssektor ist KI längst zum Schlüsselthema geworden: Die Bundeswehr und europäische Partner investieren massiv in KI- gestützte Systeme – von der automatisierten Auswertung von Satelliten- und Drohnendaten, über optimierte logistische Prozesse bis hin zu autonomen Abwehrsystemen und Szenarienanalysen. Der Einsatz von KI erfordert jedoch eine kontinuierliche regulatorische und ethische Kontrolle, insbesondere, wenn militärische Anwendungen schnell in sensible Dual-Use-Bereiche vordringen. Zugleich verschärfen die globale Konkurrenz um Halbleiter und der Zugang zu kritischen Rohstoffen – insbesondere seltene Erden – die geopolitische Unsicherheit.
Vor allem China nutzt Exportkontrollen als strategisches Druckmittel gegen westliche Industriestaaten, deren Hightech- und Rüstungsindustrie von einer sicheren Versorgung abhängig sind. Die Abhängigkeit Europas und der USA von wenigen Lieferländern birgt erhebliche Risiken für industrielle Wertschöpfungsketten, Verteidigungsfähigkeit und wirtschaftliche Souveränität. Eine Diversifizierung der Lieferketten, technologische Innovation und gezielte Rohstoffpartnerschaften sind deshalb zentrale Zukunftsaufgaben, um den Wohlstand und die Handlungsfähigkeit Europas langfristig zu sichern.
KI birgt aber auch das Risiko einer Investitionsblase, die inzwischen das amerikanische – und damit auch das globale – Finanzsystem gefährden könnte. Die kreditfinanzierten Investitionen gigantischer Infrastrukturen wie Rechenzentren und spezialisierte Chips machen jetzt schon einen imposanten Teil des amerikanischen Wirtschaftswachstums aus. Sollten sie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, droht eine Kettenreaktion, die von der Tech-Branche auf die Finanzbranche und letztlich auf die Realwirtschaft überspringen könnte. Eine solche Krise hätte weitreichende Folgen für Verbrauchervertrauen, Kreditvergabe und Wirtschaftswachstum. Die politische Unterstützung und regulatorische Maßnahmen sind somit entscheidend, um die Risiken zu steuern und das Potenzial von KI nachhaltig zu realisieren.
Die Gefahr autoritärer Kräfte
Durch Donald Trump hat sich die transatlantische Partnerschaft radikal verändert. Auf eine Zeit nach Trump zu hoffen, ist jedoch kein guter Ratschlag für Europa. Denn die aktuelle Lage, in der sich die Europäer befinden, offenbart ein strukturelles Dilemma: Die taktische Hoffnung, einen Konflikt durch die Besänftigung des US-Präsidenten hinauszuzögern, bleibt eine riskante und möglicherweise trügerische Strategie – ganz unabhängig davon, wer in Washington regiert. Europas Sicherheitsarchitektur ist derzeit immer noch zu stark auf die Gunst der USA ausgerichtet, eine echte europäische Souveränität wird es in absehbarer Zeit nicht geben.
„Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, die Hegemonie des Westens könne fortgesetzt werden.“
Die inneramerikanischen Angriffe auf die Demokratie, von Wahlrechtsbeschränkungen bis hin zur Aushöhlung rechtsstaatlicher Institutionen, wirken längst über die Vereinigten Staaten hinaus. Sie könnten sich als Blaupause für autoritäre Kräfte in anderen westlichen Demokratien erweisen. Die Polarisierung und der zunehmende Populismus schwächen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit die Widerstandsfähigkeit demokratischer Systeme weltweit. Europas wichtigste Aufgabe ist es daher, aus den Gefahren in den USA zu lernen: durch Förderung unabhängiger Institutionen, resilienter Kommunikationsstrukturen und der Bereitschaft zur eigenen Verantwortung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Die Zukunft ist multipolar und fragmentiert
Hinsichtlich eines künftigen Europas müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, die Hegemonie des Westens könne fortgesetzt werden. Ein „altliberales“ Europa im Fahrwasser der USA wird es nicht mehr geben, auch wenn sich das viele aus Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und politischem Bedeutungsverlust wünschen würden. In Zeiten, in denen China und der Globale Süden zunehmend erstarken, wird es für Europa immer schwieriger, seine Pfründe zu verteidigen. Aber wir sollten endlich den Ernst der Lage begreifen und uns der multipolaren Weltordnung stellen, statt sie aufhalten zu wollen. Der bevorstehende Umbruch wird mindestens so groß sein wie damals, als das Zeitalter der Industrialisierung anbrach. Wir sollten ihn aktiv mitgestalten, statt ihn zu bekämpfen.
Die Atlantik-Brücke kann sich glücklich schätzen, in dieser fragmentierten Welt auf ein gefestigtes Netzwerk zugreifen zu können. Wir sind bereit, an Problemlösungen mitzuarbeiten und Orientierung zu bieten. Dabei zählen wir wie immer auf Ihr Engagement und Ihre Expertise!