Wirtschaft und Finanzen

„Wer Risiken scheut, verpasst Chancen“

„Wer Risiken scheut, verpasst Chancen“ Katherina Reiche Foto: Bundespresseamt

Globale Machtverhältnisse verschieben sich, geopolitische Spannungen nehmen zu: Deutschland braucht deshalb mehr Risikobereitschaft sowie Bürokratieabbau und eine strategische Diversifizierung von Lieferketten. Deutschland kann seine Rolle als wirtschaftliche und geopolitische Kraft sichern, aber dazu brauchen wir mehr Mut und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.

Von Katherina Reiche

Deutschland steht heute an einem entscheidenden Wendepunkt. Über Jahrzehnte hinweg war die Exportstärke das Fundament unseres wirtschaftlichen Erfolgs und hat uns zu einer der führenden Wirtschaftsnationen gemacht, die in Europa eine starke Stimme hatte. Die Fähigkeit, weltweit Waren und Dienstleistungen zu exportieren, war gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Stärke und internationalem Einfluss. Doch die Zeiten, in denen Deutschland automatisch vom globalen Wachstum profitierte, sind vorbei.

Die internationale Dynamik hat sich verschoben, andere Länder entwickeln sich schneller, und die Herausforderungen für unsere Wirtschaft sind komplexer und vielschichtiger geworden. Die Ursachen für diese Entwicklung sind ebenso vielfältig wie tiefgreifend. Strukturell hat sich in Deutschland ein Regelungsdickicht ausgebreitet, das Unternehmen zunehmend belastet. Die Kosten für Energie sind durch politische Entscheidungen und ideologische Festlegungen gestiegen, und der Sozialstaat wurde immer weiter ausgebaut. Diese Faktoren haben die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft geschwächt und die Innovationskraft gebremst. Hinzu kommt eine kulturelle Komponente: In Deutschland gilt Scheitern oft als Makel, und die Bereitschaft, Risiken einzugehen, ist gering. Gerade in einer Zeit, in der technologische Innovationen immer schneller voranschreiten und neue Geschäftsmodelle entstehen, kann diese Haltung zum Nachteil werden. Wer Risiken scheut, verpasst Chancen und in einer Welt, die sich immer schneller verändert, ist das ein ernstzunehmendes Problem.

Veränderte außenpolitische Rahmenbedingungen

Auch die außenpolitischen Rahmenbedingungen haben sich grundlegend verändert. Handelskonflikte, Zölle und Exportstopps sind Ausdruck einer neuen geoökonomischen Weltordnung, in der wirtschaftliche Verflechtungen zunehmend zum Spielfeld geopolitischer Interessen werden. Die USA und China setzen wirtschaftliche Macht gezielt als politisches Instrument ein, und Deutschland befindet sich im Zentrum eines globalen Spannungsfelds zwischen offenen Märkten und machtpolitischen Interessen.

Die Kräfte, die einst unsere Wirtschaft getragen haben, wirken heute oft gegeneinander und setzen unsere Wettbewerbsfähigkeit unter Druck. Die wirtschaftsliberale Weltordnung, wie wir sie kannten, ist Vergangenheit. Heute sind wirtschaftliche Verflechtungen zum Spannungsfeld geopolitischer Interessen geworden, und Deutschland muss sich in dieser neuen Realität behaupten. In diesem veränderten Umfeld ist erfolgreiche Wirtschaftspolitik untrennbar mit einer aktiven und strategischen Außenwirtschaftspolitik verbunden. Es reicht nicht mehr aus, auf offene Märkte und Wachstum zu setzen. Vielmehr müssen wir unsere wirtschaftliche Stärke gezielt einsetzen, um internationale Regeln mitzugestalten und unsere Interessen zu vertreten.

„Wirtschaft ist heute mehr denn je ein zentrales Instrument geopolitischer Gestaltung.“

Die Stabilisierung der transatlantischen Beziehungen, die Diversifizierung unserer Handels- und Lieferbeziehungen und die Stärkung multilateraler Strukturen wie der Welthandelsorganisation sind zentrale Aufgaben, die entschlossen angegangen werden müssen.

Den europäischen Binnenmarkt vertiefen

Europa muss wieder wettbewerbsfähiger werden. Das bedeutet, unnötige Bürokratie abzubauen und den europäischen Binnenmarkt zu vertiefen. Nur so können wir die Spannungen im globalen System aushalten und zu unserem Vorteil nutzen. Widerstandsfähigkeit entsteht aus Wettbewerbsfähigkeit, und diese muss wieder zum Leitmotiv europäischer Wirtschaftspolitik werden.

Die Europäische Union muss sich wieder stärker darauf besinnen, ein Motor für starken Wettbewerb zu sein und sich nicht länger als regulatorischer Bremsklotz zu verstehen. Initiativen wie der Investitionsbooster und steuerliche Entlastungen sind wichtige Schritte, um die Attraktivität für Direktinvestitionen zu erhöhen und neue Unternehmen anzusiedeln. Die ausländischen Greenfield- und Expansionsinvestitionen in Deutschland sind zuletzt zurückgegangen, und auch die Anzahl der Ansiedlungsvorhaben ist gesunken. Das zeigt, wie dringend Handlungsbedarf besteht. Sicherheit muss zu einem leitenden Prinzip werden, insbesondere im Umgang mit China. Die Beziehungen sind komplexer geworden, strukturelle Ungleichgewichte und Abhängigkeiten drohen sich zu verfestigen. China hat den Abbau und die Verarbeitung seltener Erden nahezu monopolisiert und nutzt diese Position gezielt als politisches Instrument. Ein durchdachtes Risikomanagement und die gezielte Reduzierung einseitiger Abhängigkeiten sind daher unerlässlich.

Deutschland und Europa müssen ihre Schlüsselbereiche schützen und die Resilienz ihrer Wirtschaft stärken, um in einer zunehmend fragmentierten und regionalisierten Weltordnung bestehen zu können. Denn die Weltwirtschaft entwickelt sich weg von einer einheitlichen, liberalen Ordnung hin zu einem System konkurrierender geopolitischer Blöcke. Regionale Bündnisse und Einflusszonen gewinnen an Bedeutung, protektionistische Maßnahmen und neue Allianzen prägen die internationale Ordnung. Für Deutschland und Europa bedeutet das, wirtschaftliche Verflechtungen strategisch zu steuern, Abhängigkeiten zu reduzieren und die eigene Resilienz gegen über externen Schocks zu erhöhen.

Freihandelsabkommen bieten große Chancen

Die Diversifizierung unserer Handels- und Lieferbeziehungen ist ein Schlüssel, um Lieferketten stabil zu halten und neue Märkte zu erschließen. Die Freihandelsagenda der Europäischen Union muss gestärkt werden, und auch die Beziehungen zu Lateinamerika, dem Indopazifik und Afrika bieten große Chancen. Das MERCOSUR-Abkommen und die Freihandelsabkommen mit Mexiko, Indonesien und weiteren Ländern sind wichtige Meilensteine, um neue Absatzmärkte zu erschließen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu vertiefen. Gleichzeitig bleibt das multilaterale Handelssystem mit der Welthandelsorganisation ein zentraler Stabilitätsanker, den es zu stärken, aber auch zu reformieren gilt. Die WTO stabilisiert die globale Handelsordnung und schafft Planbarkeit und Sicherheit – Werte, die in einer von Volatilität geprägten Welt besonders wichtig sind. Die Förderung der Außenwirtschaft und die Entwicklungszusammenarbeit müssen strategischer ausgerichtet werden. Förderprogramme sollten gezielt auf die Bedürfnisse der Unternehmen eingehen und auch neue Branchen wie die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie einbeziehen. Entwicklungszusammenarbeit muss zur Wettbewerbsfähigkeit beitragen, etwa durch die Unterstützung großer Infrastrukturprojekte und die Erschließung neuer Rohstoffquellen.

„Wir müssen bereit sein, alte Denkmuster zu hinterfragen und neue Wege zu gehen.“

Ressortübergreifende Arbeitsgruppen, die sich mit Themen wie Projektvergaben, Rohstoffen und Afrika beschäftigen, sind ein wichtiger Schritt, um die Zusammenarbeit zu intensivieren und Synergien zu nutzen. Wirtschaft ist heute mehr denn je ein zentrales Instrument geopolitischer Gestaltung. Energie, Infrastruktur, Technologie und Lieferketten sind nicht mehr nur Fragen für Unternehmen, sondern auch für Staaten. Regierungen auf der ganzen Welt sichern nicht mehr nur ihre Grenzen, sondern auch Netzwerke, Datenströme und Rohstoffquellen. Genau dort entscheidet sich die Weltordnung von morgen, und Deutschland muss bereit sein, seine Interessen aktiv zu vertreten.

Der Staat muss für stabile Rahmenbedingungen sorgen

Die Herausforderungen sind groß, aber sie bieten auch Chancen. Deutschland hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es Krisen meistern und sich immer wieder neu erfinden kann. Die Fähigkeit, sich anzupassen, Innovationen voranzutreiben und neue Märkte zu erschließen, ist Teil unserer wirtschaftlichen DNA. Doch dafür müssen wir bereit sein, alte Denkmuster zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. Das bedeutet, Mut zu zeigen, Risiken einzugehen und Scheitern als Teil des Innovationsprozesses zu akzeptieren. Nur so können wir die technologische Transformation meistern und unsere Wettbewerbsfähigkeit langfristig sichern.

Die Rolle des Staates ist dabei klar: Er muss für stabile Rahmenbedingungen sorgen, die Unternehmen Planungssicherheit und Investitionsanreize bieten, und darf dabei die Wirtschaft nicht durch übermäßige Regulierung lähmen. Politik muss den Mut haben, Reformen konsequent umzusetzen, um Deutschland zukunftssicher aufzustellen. Dabei dürfen Debatten über Lebensarbeitszeit, Sozialversicherung, Bürokratie und Wehrfähigkeit nicht gescheut werden. Die Kontrolle über Geld und Warenströme, über Infrastrukturen und Schlüsseltechnologien wird zum zentralen Hebel der Macht. Unternehmen sind dabei nicht mehr nur Objekte staatlicher Politik, sondern selbst zentrale Akteure im globalen Wettbewerb um Ressourcen und Einfluss.

Sie müssen ihre Geschäftsmodelle an die neuen Realitäten anpassen, Innovationen vorantreiben und internationale Partnerschaften suchen. Die Digitalisierung und die Globalisierung bieten enorme Chancen, erfordern aber auch Flexibilität und Veränderungsbereitschaft. Deutschland muss sich als starke, resiliente und innovative Wirtschaftsmacht behaupten. Das erfordert Mut, Entschlossenheit und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Nur wenn wir unsere wirtschaftliche Stärke bewahren und weiterentwickeln, können wir auch in der neuen Weltordnung Einfluss nehmen und unsere Interessen vertreten.

Die Welt da draußen wird besser, wenn Deutschland Einfluss in ihr hat. Unsere wirtschaftliche Stärke wird auch in Zukunft die Grundlage dafür sein.

Über die Autorin: Katherina Reiche ist Bundesministerin für Wirtschaft und Energie.

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