Atlantik-Brücke Dossier

Die Sanktionsspirale der USA gegen Nord Stream 2

Problemstellung – Positionen – Konsequenzen

»Die Sanktionsspirale der USA gegen Nord Stream 2«
Problemstellung – Positionen – Konsequenzen
Berlin, 2020
11 Seiten
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Das Erdgaspipeline-Projekt Nord Stream 2 wurde bereits seit der Ankündigung des Projektes im Jahr 2015 von politischen Auseinandersetzungen begleitet. Diese betreffen in erster Linie das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Russland einerseits sowie zwischen den USA und mehreren Staaten der Europäischen Union andererseits. Deutschland kommt hier eine besondere Rolle zu. Ein weiterer Streit spielt sich innerhalb der EU ab, da Polen, die Länder des Baltikums und die Ukraine eine ablehnende Haltung zu Nord Stream 2 einnehmen und sich somit gegen die Befürworter des Infrastrukturvorhabens unter den EU-Mitgliedsländern positionieren. Die transatlantische Dimension der Auseinandersetzungen ist als schwerwiegend zu betrachten. Denn nach zwei vom US-Kongress verabschiedeten Gesetzen bereiten Senatorinnen und Senatoren sowie Abgeordnete mittlerweile ein drittes Gesetz vor. Der Kern der bestehenden und der geplanten legislativen Maßnahmen besteht aus Sanktionen gegen Unternehmen, die an Nord Stream 2 beteiligt sind.

Der Fall des im August dieses Jahres vergifteten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hat kurzfristig zu einer neuen Dynamik in den verhärteten politischen Fronten geführt. Die EU hat in ihren Sanktionen gegen Russland in Bezug auf den Fall Nawalny allerdings bisher nicht das Pipeline-Projekt miteinbezogen. Die Strafmaßnahmen richten sich gegen sechs Einzelpersonen und eine Organisation, die im Zusammenhang mit der Vergiftung stehen sollen.

Ziel ist es, die Kapazität der direkt von Russland nach Deutschland führenden Pipelines – Nord Stream 1 ist seit 2011 in Betrieb – auf 110 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu verdoppeln.

Die neue Pipeline verläuft auf dem Grund der Ostsee, ihr Startpunkt soll im russischen Ort Ust-Luga liegen, etwa 100 Kilometer westlich von St. Petersburg. In Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern soll die Pipeline nach dem ursprünglichen Plan anlanden. Die nachgelagerte europäische Infrastruktur ist weitgehend betriebsbereit fertiggestellt. Ziel ist es, die Kapazität der direkt von Russland nach Deutschland führenden Pipelines – Nord Stream 1 ist seit 2011 in Betrieb – auf 110 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu verdoppeln. Zu 94 Prozent ist die Verlegung von Nord Stream 2 abgeschlossen. In dänischen und deutschen Gewässern fehlen circa 160 Kilometer an Offshore-Leitung bis zum Lückenschluss. Die Länge der Pipeline beträgt insgesamt 1.230 Kilometer. Nord Stream 2 gehört dem russischen Staatskonzern Gazprom als alleinigem Eigentümer. Die Unternehmen Wintershall Dea und Uniper aus Deutschland, ENGIE aus Frankreich, OMV aus Österreich sowie die niederländisch-britische Shell beteiligen sich zur Hälfte an der Finanzierung der Pipeline.

Dieses Dossier zeigt zunächst insbesondere die Argumentationslinien von Senatorinnen und Senatoren der Republikanischen und der Demokratischen Partei in Bezug auf erweiterte Sanktionen gegen Nord Stream 2 auf. Es folgt eine Analyse der Reaktion der deutschen Bundesregierung auf die geplanten US-Sanktionen mit extraterritorialer Wirkung. Zum Abschluss des Dossiers steht Europas Versorgungssicherheit im Spannungsfeld zwischen Abhängigkeiten und Diversifizierung von Energieträgern im Mittelpunkt. Auch gibt es einen kurzen Ausblick auf den Fortgang dieser transatlantischen Auseinandersetzung, sollte Joe Biden zum US-Präsidenten gewählt werden.

DAS ERWEITERTE SANKTIONSREGIME DES US-SENATS IN BEZUG AUF RUSSLAND UND EUROPAS ENERGIEVERSORGUNG

Die bisherigen Sanktionen der USA gegen Nord Stream 2 sind in zwei Gesetzen verabschiedet worden. Das erste Gesetz von 2017 trägt den Titel CAATSA, was für Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act steht. Ursprünglich sollte es Countering Iran’s Destabilizing Activities Act lauten. Das zweite Gesetz, PEESA, trat im Dezember 2019 in Kraft. Dieses Kürzel steht für Protecting Europe’s Energy Security Act. Beide Gesetzestexte beinhalten aus Sicht eines früheren Beraters für europäische Energiesicherheit des Department of State sowohl unter der Obama-Administration als auch der Trump-Regierung begrenzte Sanktionen, die auf die zum Einsatz kommende Technologie ausgerichtet sind. Die Strafmaßnahmen zielen generell darauf ab, die Fertigstellung der Pipeline zu verhindern.

Für ein drittes Gesetz mit dem Titel PEESCA, was für Protecting Europe’s Energy Security Clarification Act steht, liegt seit dem 4. Juni 2020 ein Entwurf des US-Senats vor. Die Demokratin Jeanne Shaheen aus New Hampshire und der Texas vertretende Republikaner Ted Cruz führen dabei eine parteiübergreifende Gruppe von Senatorinnen und Senatoren an. Dem ehemaligen Regierungsberater zufolge kommen in PEESCA intelligente Sanktionen zum Tragen. Das heißt, die bestehenden Strafmaßnahmen der ersten beiden Gesetze werden im Umfang präziser zugeschnitten. Damit soll verhindert werden, dass die neu zugespitzten Sanktionen einen ganzen Sektor betreffen und unterschiedslos eine breitere Schneise in den Energiemarkt schlagen. Dies wäre in diplomatischer und strategischer Hinsicht problematisch. Zusammengefasst handelt es sich bei PEESCA um eine aktualisierte Gesetzgebung der US-Sanktionen gegen Nord Stream 2.

Die überparteiliche Haltung des Parlamentes ebenso wie der Regierungen von Präsident Obama und Präsident Trump ist ein wesentliches Merkmal des starken Sanktionsregimes gegenüber der Pipeline.

Die überparteiliche Haltung des Parlamentes ebenso wie der Regierungen von Präsident Obama und Präsident Trump ist ein wesentliches Merkmal des starken Sanktionsregimes gegenüber der Pipeline. Was Nord Stream 2 angeht, herrscht eine seltene Einigkeit zwischen der Republikanischen und Demokratischen Partei. Hauptursächlich dafür ist nach Ansicht von Vertreterinnen und Vertretern beider Parteien, dass sich das Vorantreiben von kritischer Infrastruktur jahrzehntelang auf die Dynamik der nationalen Sicherheit der USA auswirken kann. Der negative sicherheitspolitische Einfluss von Nord Stream 2 könnte eine Generation anhalten. Wann das neue Gesetz Gültigkeit hat, ist noch unklar. Aufgrund der US-Präsidentschaftswahl am 3. November 2020 ist es denkbar, dass PEESCA erst zum Jahresende in Kraft tritt.

Was soll der neuerliche Gesetzentwurf zu Nord Stream 2 bewirken?

Das in der Planung befindliche Gesetz PEESCA soll legislativ in den U.S. National Defense Authorization Act (NDAA) von 2020 eingebettet werden. Damit sollen Sanktionen gegen jegliche Firmen anwendbar sein, die sich an Aktivitäten beteiligen, die das Verlegen der Pipeline ermöglichen oder jede andere Art von technischer Unterstützung zur Verfügung stellen.

Die offensichtlichen Ziele der Strafmaßnahmen richten sich zunächst gegen zwei Verlegeschiffe unter russischer Flagge, die im für Nord Stream 2 logistisch wichtigen Hafen von Mukran der Insel Rügen liegen.

Die erste Gruppe von Sanktionen gegen Nord Stream 2 bezieht sich auf den Bau beziehungsweise die letzte Bauphase der Pipeline. Sie richten sich gegen zwei Verlegeschiffe unter russischer Flagge im Hafen von Mukran der Insel Rügen, der für Nord Stream 2 logistisch wichtig ist. Es handelt sich um die „Akademik Cherski“ und die „Fortuna“, deren Besitzer das russische Unternehmen MRTS ist. Die „Akademik Cherski“ gehörte bis Juni 2020 der Gazprom-Tochtergesellschaft Gazprom Flot. Neuer Eigentümer des Schiffes ist seitdem der Samara Thermal Energy Property Fund (STIF). Der Wechsel des Besitzers kann als Versuch von Gazprom bewertet werden, US-Sanktionen zu entgehen. Allerdings dürfte dieses Kalkül nicht aufgehen. Denn bereits das Gesetz NDAA berücksichtigt ein solches Szenario. Es besagt, dass die Bestimmungsziele der Sanktionen ausländische Personen umfassen, die bewusst Verlegeschiffe verkauft, geleast oder bereitgestellt oder irreführende Geschäfte oder strukturierte Transaktionen ermöglicht haben, um derartige Schiffe zur Verfügung zu stellen.

Die amerikanischen Strafmaßnahmen richten sich zudem gegen „umwelt- und sicherheitsrelevante Bautätigkeiten, die das Verlegen von Rohren ermöglichen, einschließlich der Vorbereitung des Verlegekorridors, des Aushebens von Gräben, der Vermessung, des Einbringens von Gestein sowie des Verschweißens und Absenkens der Rohre“, wie es in einer Unternehmensaussage der Nord Stream 2 AG heißt. Der Transport von Rohren und die Stabilisation des Meeresbodens zählen ebenfalls zu den Konstruktionsarbeiten der neuen Pipeline, die unter die potenzielle Anwendung von US-Sanktionen fallen.

Im Zuge des Baufortschrittes von Nord Stream 2 werden darüber hinaus bestimmte andere Dienstleistungen erforderlich. Den Informationen des Unternehmens zufolge betreffen die neuen Sanktionen Firmen, die Dienstleistungen, Versicherungen oder spezielle Nachrüstungsdienste für Verlegeschiffe anbieten. Das Gesetz enthält zum Beispiel Regelungen, die die Bestimmungsziele der Strafmaßnahmen für Firmen gewährleisten, die Dienstleistungen oder Anlagen für den Ausbau von Technologie oder die Einrichtung beziehungsweise Nachrüstung von Schweißausrüstung oder das Anbinden solcher Schiffe bereitstellen. Hintergrund ist hier, dass die „Fortuna“ mit ihren Schweißanlagen so eng an die mit einem Dynamischen-Positionier-System (DPS) ausgestattete „Akademik Cherski“ angebunden werden könnte, dass sie die Projektarbeiten durchführt. Diese Möglichkeit soll das Gesetz verhindern.

Nach Einschätzung des ehemaligen Regierungsberaters ist die präzise Definition der sanktionsbezogenen Regelungen in Bezug auf diejenigen Unternehmen ebenfalls signifikant, die eine Versicherungsvertretung oder Rückversicherung für solche Verlegeschiffe anbieten.

Die zweite Gruppe von Sanktionen gegen die Pipeline ist auf deren Betrieb ausgerichtet. Denn bereits die Inbetriebnahme der Pipeline soll nach Auskunft von Nord Stream 2 ebenfalls sanktioniert werden. Gleiches gilt in einer Klausel des Gesetzes für Dienstleistungen wie Prüfungen, Inspektionen oder Zertifizierungen, die für den Betrieb von Nord Stream 2 erforderlich sind. Und auch wenn die Pipeline einmal in Betrieb gegangen ist, braucht sie weitere Dienstleistungen – etwa Wartungen –, wie aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) verlautet.

Eine dritte Gruppe von Sanktionen des Gesetzes PEESCA könnte sich auf Behörden beziehen. Laut der Nord Stream 2 AG ist das verwaltungstechnische Handeln von staatlichen Behörden auch in Deutschland im Zusammenhang mit der Fertigstellung oder dem Betrieb der Pipeline sanktionsrelevant.

Was die technische Anwendung des neuen Gesetzes angeht, soll es rückwirkend zum Datum des Inkrafttretens des zweiten Gesetzes, PEESA, gelten. Damit stellt es auch seit Dezember 2019 abgeschlossene Arbeiten unter Strafe. Jeder Schritt, der die physische Konstruktion des Röhrensystems vorantreibt, kann sanktioniert werden. Das Gesetz hat nach Ansicht des ehemaligen Mitarbeiters im State Department insofern keinen eskalierenden Charakter, da es in erster Linie den Rahmen spezifischer Verlegearbeiten definiert, die vertretbarerweise schon im existierenden Gesetz NDAA abgedeckt sind.

Die US-Sanktionen würden mehr als 120 Unternehmen aus mehr als zwölf europäischen Ländern direkt betreffen. Darunter befinden sich mehr als 40 deutsche Firmen.

Von Seiten der Nord Stream 2 AG heißt es, dass die Sanktionen damit mehr als 120 Unternehmen aus mehr als zwölf europäischen Ländern direkt betreffen würden. Darunter befinden sich mehr als 40 deutsche Firmen. Im Ergebnis sei die Zielrichtung der amerikanischen Sanktionsgesetzgebung eindeutig: Die Inbetriebnahme der Nord Stream 2 solle verhindert werden, berichten hochrangige Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums. Das dritte Gesetz soll sicherstellen, dass die bestehenden Sanktionen ausreichen, um Nord Stream 2 zeitlich unbegrenzt zu stoppen.

Der finanzielle Schaden dieses Szenarios wäre beträchtlich. Zum einen würden die US-Sanktionen laut der Nord Stream 2 AG Investitionen zur Fertigstellung der Pipeline in Höhe von rund 700 Millionen Euro verhindern. Zum anderen würden die Strafmaßnahmen Investitionen in Höhe von circa 12 Milliarden Euro in rechtsstaatlich genehmigte, größtenteils fertig gebaute Energieinfrastruktur der EU untergraben. Davon entfallen 8 Milliarden Euro auf Nord Stream 2, 3 Milliarden Euro auf nachgelagerte Infrastruktur in Deutschland sowie 750 Millionen Euro auf Infrastruktur in der Tschechischen Republik.

Die Nord Stream 2 AG mit Sitz im schweizerischen Zug betont, dass diese Infrastruktur errichtet wurde, um das über die Pipeline gelieferte Erdgas in den europäischen Markt weiter zu transportieren. Die bereits angeführten fünf westeuropäischen Energieunternehmen aus Österreich, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden hätten jeweils fast eine Milliarde Euro in das Projekt investiert. Nach Angaben des Unternehmens wären auch die Endkunden von einem Aus der Pipeline betroffen. Europäische Verbraucherinnen und Verbraucher und Industrien würden mit jährlichen Mehrkosten in Milliardenhöhe für die Beschaffung von Erdgas belastet. In der Bewertung dieses Ausganges für Nord Stream 2 heißt es aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, die amerikanische Politik sei konsequent, indem sie fortführt, was sie im vergangenen Jahr und auch schon davor begonnen hat.

Wie begründen republikanische Senatorinnen und Senatoren die verschärften Sanktionen?

Die Republikanische und die Demokratische Partei sehen Nord Stream 2 im Grundsatz als Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten. Die Republikaner im US-Senat begründen die bestehenden und geplanten Sanktionen gegen die Pipeline offiziell damit, dass die USA – zusätzlich zu ihren generellen Bedenken – besorgt sind um die Sicherheit der Energieversorgung Deutschlands und Europas.

Das Schlüsselargument der republikanischen Senatorinnen und Senatoren liegt in der aus ihrer Sicht äußerst problematischen Abhängigkeit Europas von Russland, das insbesondere seit der Annexion der Krim 2014 geopolitisch als schwieriger Akteur angesehen wird. Der republikanische Senator Ted Cruz, einer der beiden Initiatoren von PEESCA, zählt zu den klassisch konservativen Falken im Kongress. Er plädiert schon seit Langem für einen konsequenten Umgang mit autoritären Regimen. Es sind also außenpolitische Motive, die hier innerhalb der Grand Old Party ins Gewicht fallen.

Das Schlüsselargument der republikanischen Senatorinnen und Senatoren liegt in der aus ihrer Sicht äußerst problematischen Abhängigkeit Europas von Russland.

Ein zweites Motiv für die ablehnende Haltung der republikanischen Senatorinnen und Senatoren könnte in neuen Absatzmärkten für US-amerikanisches Liquefied Natural Gas (LNG) liegen. Ted Cruz zählt dem US-Spendenregister zufolge zu den Hauptempfängern von Spenden aus der amerikanischen Energieindustrie. Texas ist gewissermaßen die Heimat der US-Öl- und Gasindustrie. In den Jahren 2017 und 2018 spendete diese knapp 800.000 US-Dollar an Cruz. Kein anderer Senator erhielt eine derart hohe Summe von Öl- und Gaskonzernen.

Im Bundeswirtschaftsministerium sieht man in den Sanktionen gegen die Pipeline nicht wettbewerbskonforme Mittel. Sie greifen in den europäischen Energiemarkt ein, um die merkantilen Möglichkeiten für Flüssiggas aus den USA zu verbessern. In Zeiten niedriger Erdgaspreise seien Konkurrenten des amerikanischen LNG nicht willkommen und sollten den Markt verlassen. Auf diese Weise würden die Gaspreise in die Höhe getrieben, um das US-LNG mit einer Gewinnspanne im europäischen Markt absatzfähig zu machen.

Wie begründen demokratische Senatorinnen und Senatoren die verschärften Sanktionen?

Auch die Demokratische Partei begründet ihre ablehnende Position gegenüber Nord Stream 2 grundsätzlich damit, dass Europas Energieversorgung Schaden nehmen könnte. Schon in der Obama-Administration sprachen sich führende Politikerinnen und Politiker der Demokraten gegen die Pipeline aus. Zu ihnen zählten der frühere Außenminister John Kerry und der ehemalige Vizepräsident und aktuelle Präsidentschaftskandidat Joe Biden, der das Projekt ein „schlechtes Geschäft für Europa“ nannte.

Ein weiterer Grund für die kritische Einstellung der US-Demokraten liegt in der russischen Einmischung im Vorfeld der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016. Es habe sich eine tiefe Abneigung gegen Russland und russische Aktivitäten festgesetzt, erklärt ein führender Vertreter des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Diese Argumentationslinie richtet sich also explizit gegen die russische Föderation und nicht unmittelbar gegen das Verhalten europäischer Staaten, auch wenn diese ebenfalls unter den Sanktionen leiden. Nord Stream 2 wegen der russischen Einmischung in die US-Wahlen 2016 mit Strafmaßnahmen zu belegen, ist ein bereits seit Jahren anhaltendes Motiv der demokratischen Senatorinnen und Senatoren. Es ist nicht erkennbar, dass die Demokraten diese Linie in naher Zukunft verlassen werden.

Nord Stream 2 wegen der russischen Einmischung in die US-Wahlen 2016 mit Strafmaßnahmen zu belegen, ist ein bereits seit Jahren anhaltendes Motiv der demokratischen Senatorinnen und Senatoren.

Dagegen sind potenzielle neue Absatzmärkte für amerikanisches Flüssiggas in Europa nicht Teil der Begründung der demokratischen Senatorinnen und Senatoren für das Sanktionsregime gegen Nord Stream 2. Dies gilt für offizielle Mitteilungen und vertrauliche Gespräche.

DIE EXTRATERRITORIALE WIRKUNG AMERIKANISCHER SANKTIONEN ERREICHT DEUTSCHLAND

Sogenannte Sekundärsanktionen mit extraterritorialer Wirkung sind in den internationalen Beziehungen höchst umstritten. Für manche Diplomaten und Rechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler stellen derartige Strafmaßnahmen einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Von den US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 ist nicht nur Russland betroffen. Auch Deutschland und einige weitere EU-Staaten werden aufgrund der unternehmerischen Beteiligung an dem Projekt von den Maßnahmen der US-Politik beeinträchtigt. Daher versuchen die an Nord Stream 2 beteiligten europäischen Staaten, angemessen mit dem Sanktionsregime des US-Senats umzugehen.

Welche möglichen Auswirkungen haben die US-Sanktionen auf deutsche Behörden?

Für den früheren Berater des U.S. Department of State ist es reine Spekulation, dass staatliche Stellen in Deutschland von den neuerlichen Sanktionen gegen Nord Stream 2 direkt in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Damit sei insbesondere die Bundesnetzagentur gemeint, die in diesem Kontext als deutsche Regulierungsbehörde fungiert. Das Bundeswirtschaftsministerium widerspricht an diesem Punkt. Derzeit könne man den Gesetzentwurf und die Verlautbarungen dazu nur so interpretieren, dass die Wirkung der Sanktionen gegen Behörden die gleiche wäre wie bei Unternehmen. Bei Unternehmen würden die Geschäftsbeziehungen sanktioniert, ein Unternehmen könne keine Geschäfte mehr in den USA weiterverfolgen, meint ein Vertreter des Ministeriums. Dies sei jedoch im Grundsatz kaum vergleichbar mit der Rolle von Behörden, denn das BMWi oder die Bundesnetzagentur verfolgen keine Geschäfte in den Vereinigten Staaten.

Eine „staatliche Behörde“ umfasst vieles, zum Beispiel eine Stadtverwaltung. In Deutschland ist deshalb eine gewisse Verunsicherung mit Blick auf die US-Sanktionen entstanden. Es sei leicht vorstellbar, wie die Angriffspunkte von Sanktionen gegen Personen in staatlichen Stellen aussehen können, sagen Fachleute. Theoretisch könnte jede Person, die sich in offizieller staatlicher Funktion mit Nord Stream 2 beschäftigt, auf eine Sanktionsliste der USA kommen. Selbst ein Hafenmeister in Mecklenburg-Vorpommern, der ein Schiff einlaufen lässt, könnte sanktioniert werden. In der Regel würde das bedeuten, dass solche Behördenvertreter nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen können und deren Vermögenswerte und Konten in den USA eingefroren werden.

Aus Sicht des amerikanischen Beraters stellt diese Debatte in Deutschland eine fehlerhafte und enge Lesart der Sanktionsgesetzgebung des US-Senats dar. Vielmehr handele es sich bei dieser Form der Auslegung um ein Narrativ, das wahrscheinlich dazu genutzt werden soll, die überparteilichen US-Sanktionen als gegen die deutsche Regierung gerichtet erscheinen zu lassen. Wenn dies der Fall wäre, würde dasselbe für staatliche Regulierungsbehörden in jeder der nationalen EU-Jurisdiktionen gelten, durch die die Pipeline verläuft. Dies träfe zum Beispiel auf Finnland, Schweden, Dänemark und im weiteren Sinne auf Regulierungsbehörden der EU zu. Tatsächlich aber sei die Sprache der Sanktionen klar auf kommerzielle Zertifizierungsdienstleister ausgerichtet, insbesondere auf die norwegische Firma DNV GL. Diese sei von der Nord Stream 2 AG als Zertifizierungsdienstleister ausgewählt worden.

Was die Auswirkungen der US-Sanktionen auf deutsche Behörden betrifft, herrscht in diesem Stadium des Verfahrens eine gewisse Unvorhersehbarkeit. Das BMWi verlautet, dass es zu einer Abmilderung kommen könnte, wenn amerikanische Strafmaßnahmen gegen staatliche Stellen in Deutschland nicht in der finalen Fassung des Gesetzestextes verankert sind. Das Gefährliche an den Sanktionen der Amerikaner sei häufig, dass unscharfe Klauseln Gesetzeskraft erlangen, sagt ein Vertreter des Ministeriums. Dies werde bewusst in Kauf genommen, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen.

Wie reagiert die Bundesregierung auf die geplanten Sanktionen?

Bis zur Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hatte sich die Bundesregierung stets unmissverständlich hinter das Projekt gestellt. Auf die neuen geplanten Sanktionen des US-Senats reagierte sie zum einen mit Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes. Hier wird deutlich, dass ein Verstoß gegen das Völkerrecht der Hauptkritikpunkt deutscher Diplomaten am Vorgehen der USA gegen Nord Stream 2 ist. So sagte etwa Staatsminister Niels Annen in einer Anhörung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages, dass Sanktionen mit extraterritorialen Effekten einen ernsthaften Eingriff in die Souveränität der Europäischen Union darstellten. Europäischen Unternehmen würde direkt mit Sanktionen gedroht, obwohl sie ihre Arbeiten in vollständiger Übereinstimmung mit EU-Recht durchführen.

Ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist der Hauptkritikpunkt deutscher Diplomaten am Vorgehen der USA gegen Nord Stream 2.

Zum anderen reagierte die Bundesregierung mit dem Schlüsselressort für Nord Stream 2, dem BMWi, auf die geplanten Sanktionen. In derselben Anhörung, in der auch Annen für das Auswärtige Amt sprach, meldete sich Staatssekretär Thomas Bareiß ausführlich und differenziert zu Wort. Bareiß hielt zunächst fest, dass die Bundesregierung hart daran gearbeitet habe, die deutsche Energieversorgung zu sichern und zu diversifizieren. Dies erscheint grundsätzlich als geboten, da die Bundesrepublik bis spätestens 2022 aus der Kernenergie aussteigt und möglichst bis 2035 auch alle Kohlekraftwerke stilllegen will. Als Beleg hob der Staatssekretär erstens hervor, dass das Bundeswirtschaftsministerium dazu beigetragen habe, dass der Gastransit durch die Ukraine und damit die Einnahme von Transitgebühren gewährleistet sind und die Energiesicherheit Osteuropas insgesamt abgesichert ist. Dem BMWi zufolge wurde die Laufzeit des Vertrags um fünf Jahre verlängert. Zweitens arbeite die Bundesregierung sehr intensiv am Aufbau einer LNG-Infrastruktur mit entsprechenden Regasifizierungsanlagen in Deutschland, darunter drei Terminals, die für den Gas-Import geeignet sind. Und drittens sei es die Ansicht des BMWi, dass Nord Stream 2 vorrangig die Versorgung für ganz Europa sicherstellen und somit einen besonderen Beitrag zur sicheren Gasversorgung der deutschen Partner in Europa leisten wird.

Während der ehemalige US-Regierungsmitarbeiter nicht auf das von deutscher Seite vorgebrachte Argument eines Verstoßes gegen das Völkerrecht und von geltendem EU-Recht durch die amerikanischen Sanktionen eingeht, setzt er sich dezidiert mit der Ukraine, dem US-LNG und der Versorgungssicherheit in Europa auseinander.

Zunächst zur Ukraine: Das Statement von Staatssekretär Bareiß impliziere, dass die aktive Diplomatie des BMWi allein verantwortlich für die Fortführung des ukrainischen Gastransits kurz vor Auslauf des langfristigen Naftogaz-Gazprom-Transitabkommens Ende 2019 ist. Vielmehr sei jedoch das Ereignis, das letztendlich zur Verlängerung des Vertrages führte, die Inkraftsetzung von durchdachten, begrenzten und auf Technologie ausgerichteten Sanktionen auf breiter überparteilicher Basis durch den US-Kongress. Vor allem der Rückzug des Schweizer Pipeline-Verlegers Allseas Ende 2019 aufgrund der zweiten Sanktionsrunde der USA habe hier für Bewegung gesorgt. Gazprom sei dadurch ohne Alternative zum Weiterbau beziehungsweise zur Fertigstellung von Nord Stream 2 und damit zur Umleitung des Gasflusses von der Ukraine zur Ostsee zurückgeblieben. Deshalb sei Gazprom gezwungen gewesen, einen neuen Vertrag zu unterzeichnen. Dieser verhinderte schließlich eine Gassperre der Ukraine durch Russland, die lange Zeit erwartet worden war.

Im Kern gehe es Russland und seinem staatseigenen Konzern Gazprom darum, russisches Gas auf europäischen Märkten zu verkaufen und gleichzeitig die beinahe vollständige technische Fähigkeit zu besitzen, die traditionelle Transitroute durch die Ukraine zu umgehen, erläutert der Berater. Dies werde klar, wenn man sich technische Konstruktionspläne der auf dem Festland vorgesehenen Europäischen Gas-Anbindungsleitung von Nord Stream 2, EUGAL genannt, vergegenwärtigt: Nur 9,9 Milliarden Kubikmeter der jährlich 55 Milliarden Kubikmeter umfassenden Kapazität von Nord Stream 2 seien tatsächlich für die Belieferung Deutschlands zugewiesen. Die restliche Leitungskapazität solle Deutschland auf dem Weg in die Tschechische Republik verlassen und letztlich im Gas-Hub Baumgarten in Österreich ankommen. Dieser Knotenpunkt bilde den derzeitigen faktischen Endpunkt der Gas-Transitstrecke durch die Ukraine.

Im Kern gehe es Russland und seinem staatseigenen Konzern Gazprom darum, russisches Gas auf europäischen Märkten zu verkaufen und gleichzeitig die beinahe vollständige technische Fähigkeit zu besitzen, die traditionelle Route durch die Ukraine zu umgehen, so ein Experte.

Was die Entwicklung einer LNG-Infrastruktur in Deutschland angeht, stellt dieser Punkt für den früheren Regierungsberater einen weiteren Versuch von Befürwortern der Pipeline dar, eine unzulässige Gegenüberstellung zu erzeugen. Die Unterstützer vermittelten den Eindruck, es laufe darauf hinaus, entweder Nord Stream 2 fertigzustellen oder amerikanisches Flüssiggas zu importieren. Es sei der Versuch, legitime und seit langer Zeit bestehende Bedenken bezüglich der nationalen Sicherheit der USA im Kontext dieses Projektes zu unterminieren, indem die US-Politik als ein merkantilistisches Verlangen dargestellt wird, das eigene LNG in Europa zu verkaufen.

Mit Blick auf die Versorgungssicherheit in Europa halte das Statement von Staatssekretär Bareiß, dass Nord Stream 2 die Sicherheit der Energielieferungen für die Europäische Union zu erhöhen beabsichtigt, einer gründlichen Prüfung ebenfalls nicht stand. Analysen zeigten, dass das Pipeline-Projekt dem jahrelangen Ziel des Kreml dienen soll, die ökonomische und strategische Stabilität der Ukraine zu untergraben, indem das Land vom Gastransit durch sein eigenes Pipeline-System abgeschnitten wird, bemerkt der ehemalige Regierungsberater. Das Projekt ziele nicht darauf ab, signifikant neue Gasmengen nach Deutschland zu transportieren. Vielmehr würde Nord Stream 2 die überwiegende Mehrheit der russischen Erdgas-Importe nach Europa über eine einzige verwundbare Unterseeverbindung bündeln. Für den Experten symbolisiert die Pipeline eine Infrastruktur, die der Diversifizierung von Energiequellen zuwiderläuft und somit im direkten Widerspruch zu den Kernanliegen der Strategie einer Europäischen Energieunion steht, die 2015 in Brüssel vereinbart wurde.

Des Weiteren halte die Aussage des deutschen Staatssekretärs, dass mit Nord Stream 2 die Energiesicherheit Osteuropas abgesichert ist, einer kritischen Analyse nicht stand. Die große Mehrheit von osteuropäischen Staaten und östlichen EU-Mitgliedsländern hätte angesichts der Bedenken zur Energieversorgung und nationalen Sicherheit öffentlich und beständig gefordert, Nord Stream 2 einzustellen. In Bezug auf Polen merken Fachleute in Europa an, dass dies der schwierigste Fall unter den osteuropäischen Staaten sei, weil sich Polen mit der PiS-Regierung generell auf extreme Weise positioniert. Dies führe dazu, dass Polen versucht, Nord Stream 2 zu torpedieren. Dennoch sei ein differenzierter Blick, etwa ins Baltikum, geboten. Denn obwohl zum Beispiel Litauen grundsätzlich ein Gegner der Pipeline sei, unterstützt die dortige Regierung Deutschland in der Frage, wie auf die Ankündigung neuer US-Sanktionen zu reagieren ist.

Die Bundesregierung sieht etwaige Gegensanktionen als kein probates Mittel einer angemessenen Reaktion an, weil sie eine Eskalation in Gang setzen würden.

In Deutschland hat sich dieser transatlantische Streitfall dadurch verschärft, dass sich mittlerweile Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen gegen die extraterritoriale Wirkung der amerikanischen Sanktionen wenden. Dennoch, so heißt es aus dem Bundeswirtschaftsministerium, sieht die Bundesregierung etwaige Gegensanktionen als kein probates Mittel einer angemessenen Reaktion an, weil sie eine Eskalation in Gang setzen würden.

Welche Folgen könnten die neuen Sanktionen für das transatlantische Verhältnis haben?

Es ist offensichtlich, dass sich die neu angekündigten US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 negativ auf die ohnehin in dieser Angelegenheit angespannten transatlantischen Beziehungen auswirken. Bislang waren US-Sanktionen mit extraterritorialer Wirkung als Politik des maximalen Drucks gegen Regime wie das des Iran zum Einsatz gekommen. Ein Beispiel ist hier der Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem Atomabkommen mit Teheran (JCPOA). Davon waren und sind noch immer europäische Unternehmen indirekt betroffen. Doch mit den Strafmaßnahmen gegen die Ostsee-Pipeline geraten etliche europäische Wirtschaftsakteure unmittelbar in den Fokus der US-Politik. Im Umgang mit langjährigen Partnern auf dieser Seite des Atlantiks stellt die Sanktionspolitik der USA einen neuen Tiefpunkt dar. Ein Repräsentant des deutschen Bundeswirtschaftsministeriums bemerkt, dass diese Besorgnis selbst bei einigen Kongressabgeordneten in den USA wahrgenommen werde. Auch sie teilten die Sorge, dass hier vehement gegen Interessen des wichtigsten transatlantischen Partners verstoßen werde.

Losgelöst von der Sanktionierung der an Nord Stream 2 beteiligten Unternehmen, Dienstleister und Versicherer, wäre es ein absolutes Novum, wenn sich amerikanische Sanktionen auch gegen staatliche Behörden von befreundeten Regierungen oder sogar gegen die Regierungen selbst richten sollten. Schon heute – ohne die noch nicht in Kraft getretenen Strafmaßnahmen des PEESCA – beschneiden die US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 aus Sicht der Bundesregierung und des Pipeline-Konsortiums Deutschlands Souveränität. Denn faktisch ist der Bau der Röhre seit Ende 2019 gestoppt.

Losgelöst von der Sanktionierung der an Nord Stream 2 beteiligten Unternehmen, Dienstleister und Versicherer, wäre es ein absolutes Novum, wenn sich amerikanische Sanktionen auch gegen staatliche Behörden von befreundeten Regierungen oder sogar gegen die Regierungen selbst richten sollten.

Zugleich steht die wichtige Frage im Raum, ob das liberale Paradigma von Wettbewerb und freiem Handel, das die Mitgliedsstaaten der Internationalen Energieagentur (IEA) in den 1990er-Jahren als feste Regel auf den internationalen Ölmärkten etabliert hatten, durch das Vorgehen der USA unterminiert wird. In einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik vom Juni 2020 heißt es dazu: „Gegenüber anderen EU-Mit­gliedern schnürt Washington sehr kon­krete Pakete der Solidarität: zum Beispiel politi­sche Unterstützung für die Drei-Meere-Ini­tia­tive, die auf die Anbindung der ost­euro­päi­schen Gasmärkte an den Weltmarkt (und US-LNG) setzt, aber zugleich die Inte­gration des EU-Gasmarktes zumindest verlangsamt.“

EUROPAS ENERGIEMARKT ZWISCHEN ABHÄNGIGKEIT UND DIVERSIFIZIERUNG

Die Europäische Energieunion hat es sich unter anderem zum Ziel gesetzt, die Energie für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aus sicheren und diversen Quellen zu beziehen. Da die EU selbst nicht energieautark ist, ist sie auf unabsehbare Zeit auf Energieträger außerhalb der Staatengemeinschaft angewiesen – beispielsweise auf Erdgas aus dem Ausland. Dadurch entsteht zwangsläufig eine Abhängigkeit von den einzelnen Zuliefererländern, zu denen auch Russland zählt. Je mehr die Energieträger und die Bezugsquellen für den europäischen Markt diversifiziert werden, desto beherrschbarer wird aus einem sicherheitspolitischen Blickwinkel die Abhängigkeit von den verschiedenen Lieferungen. Insgesamt soll so die Versorgungssicherheit Europas gewährleistet werden. In genau diesem Spannungsverhältnis ist die Pipeline Nord Stream 2 zu betrachten.

Wie positioniert sich das Pipeline-Konsortium von Gaskonzernen zu den US-Plänen?

Die Nord Stream 2 AG lehnt die neuerlichen US-Sanktionen entschieden ab. Das Konsortium verweist dabei zunächst auf die rechtliche Lage des Pipeline-Projekts. Es schließt sich den Worten des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, an. Dieser machte klar, dass die EU die extraterritoriale Anwendung von US-Sanktionen nicht anerkennt, die ihrer Ansicht nach gegen das internationale Völkerrecht verstoßen. „Die Nord Stream 2 AG stimmt mit der Europäischen Kommission überein, dass die Sanktionierung von europäischen Firmen, die am Nord Stream 2-Projekt beteiligt sind, ein völkerrechtswidriger Eingriff in die europäische Souveränität ist“, heißt es in einer Stellungnahme des Unternehmens.

Das Konsortium sieht sich darüber hinaus als Anwalt der potenziell zukünftigen Kundinnen und Kunden von Nord Stream 2. Die Bemühungen, dieses Vorhaben zu behindern, zeigten eine „klare Missachtung der europäischen Verbraucher“, die Milliarden Euro mehr für Erdgas zahlen würden, wenn die Pipeline nicht fertiggestellt werde. Nach Einschätzung des Bundeswirtschaftsministeriums versucht das Konsortium, den Bau der Pipeline abzuschließen und sie in Betrieb zu nehmen – trotz der amerikanischen Sanktionen vom Dezember 2019.

Welche Absatzchancen hat amerikanisches Flüssiggas am europäischen Markt?

Eine Möglichkeit, die Energieträger und Bezugsquellen für den europäischen Markt zu diversifizieren, bestünde im Import von US-amerikanischem LNG, das auf minus 162 Grad Celsius heruntergekühlt in Spezialtankern über den Atlantik nach Europa transportiert wird. Die Europäische Energieunion erklärt die Diversifizierung zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Strategie. Um dieses Ziel zu erreichen, sind Erweiterungen von Erdgas-Verbindungsleitungen, sogenannten Interkonnektoren, ebenso notwendig wie die Vervielfältigung der LNG-Terminal-Kapazitäten. Damit würde die EU an globale LNG-Märkte angeschlossen werden.

Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft spricht sich dafür aus, dass der zukünftige europäische Energiebedarf deshalb nur mithilfe von zusätzlichen Pipelines wie Nord Stream 2, des bestehenden ukrainischen Pipelinesystems sowie steigender LNG-Importe gedeckt werden kann. Und tatsächlich investieren Deutschland und weitere EU-Staaten derzeit gezielt in den Ausbau von LNG-Terminals. Daraus ergibt sich aber kein Automatismus, dass das US-LNG mit den europäischen Märkten einen Hauptabnehmer findet. Denn das amerikanische Flüssiggas steht nicht im direkten Wettbewerb mit russischem Erdgas, sondern mit LNG aus globalen Märkten – auch aus Russland. So hat Deutschland dem Bundeswirtschaftsministerium zufolge 2019 mehr russisches LNG bezogen als verflüssigtes Gas aus den USA.

Es stellt sich also die Frage der Wettbewerbsfähigkeit von US-LNG. In den ersten Jahren nach Beginn des Frackings in den Vereinigten Staaten erlebte diese Fördermethode von Gas und Öl einen Boom. Erstmals in ihrer Geschichte hatten die USA die Kapazität und die technische Fähigkeit, eigenes Flüssiggas in die Weltmärkte zu exportieren – bis dahin war Amerika ein Netto-Importeur von Öl und Gas. Es hat hier also ein energiepolitischer Paradigmenwechsel stattgefunden.

Erstmals in ihrer Geschichte haben die USA die Kapazität und die technische Fähigkeit, eigenes Flüssiggas in die Weltmärkte zu exportieren.

Wie viel Gas aus welchem Land über welche Kanäle bezogen wird, ist grundsätzlich eine Frage wettbewerbsfähiger Preise. Der ehemalige Regierungsberater des U.S. Department of State betont, dass trotz der Beispiele für importiertes US-LNG im Laufe der zurückliegenden Jahre – vor allem durch LNG-Terminals in Świnoujście in Polen und in Klaipeda in Litauen – die überwältigende Mehrheit der US-Exportvolumina von Abnehmern in Südamerika und Südostasien gekauft worden sei anstatt von europäischen Beziehern. Mit diesem Kontext sei eine Verbindung des Absatzes von US-LNG zur amerikanischen Opposition gegenüber Nord Stream 2 weder in technischer noch in politischer oder in marktbezogener Hinsicht fundiert.

Eine Analyse der kurz- und langfristigen Grenzkosten für Gasexporte in die EU, die das SIPA Center on Global Energy Policy der Columbia University 2018 veröffentlichte, bestätigt die Argumentation des Beraters. Diese zeigt, dass russisches Pipelinegas im Vergleich zu US-LNG geringere Kosten aufweist und folglich strukturell wettbewerbsfähigere Preise ermöglicht. Russisches Erdgas hat geringere Entstehungs- beziehungsweise Herstellungskosten als amerikanisches Flüssiggas. Auch der Transport durch eine Pipeline ist günstiger als im Spezialtanker. Er wisse nicht, wie US-LNG die deutlichen Unterschiede in den Kosten zu russischem Gas langfristig wettmachen soll, sagt ein Vertreter des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Dass US-LNG wegen mangelnder Infrastruktur in Europa einen Wettbewerbsnachteil gegenüber russischem Erdgas habe, wie gelegentlich von LNG-Lobbyisten vorgebracht wird, hält er für nicht stichhaltig. Laut einer DIW-Studie zeige sich, dass die bestehende LNG-Infrastruktur ausreiche, um die Nachfrage des europäischen Marktes zu decken – selbst wenn sich Nord Stream 2 nicht realisieren ließe und mit der Pipeline die einkalkulierten 55 Milliarden Kubikmeter an russischem Erdgas ausfielen. Die bisherigen LNG-Kapazitäten seien in den vergangenen Jahren nicht ausgelastet gewesen. Allerdings sei zu erwarten, dass der europäische Gasimportbedarf steigt.

In Deutschland existiert derzeit kein LNG-Terminal. Jedoch sind drei voll ausgestattete Terminals in Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven in der Planung.

Laut Bundeswirtschaftsministerium existiert in Deutschland derzeit kein LNG-Terminal. Es gibt jedoch Planungen für drei voll ausgestattete Terminals in Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven, die Erdgas in das entsprechende Netz einspeisen sollen. Zudem werde ein weiteres LNG-Terminal in der Ostsee nahe Rostock geplant. Dabei handele es sich allerdings um ein sogenanntes Small-Scale-Terminal, das ausschließlich Flüssiggas für den Gebrauch von Schiffen und Lkw anlanden soll. Deutschland sei aber bereits über die Leitungsinfrastruktur an die LNG-Terminals in Dunkerque in Frankreich, Rotterdam in den Niederlanden und Zeebrugge in Belgien angebunden. Es sei daher problemlos möglich, LNG nach Deutschland zu bringen.

Fazit

Die Bundesregierung will offenbar nichts unversucht lassen, Nord Stream 2 zu einem gütlichen Ende zu bringen. Mitte September 2020 wurde durch ZEIT-Recherchen bekannt, dass Bundesfinanzminister Olaf Scholz seinem amerikanischen Amtskollegen, US-Finanzminister Steven Mnuchin, Anfang August in einem vertraulichen Regierungsdokument folgenden Vorschlag unterbreitet hat: Deutschland investiert bis zu eine Milliarde Euro aus öffentlichen Mitteln in die geplanten LNG-Häfen in Brunsbüttel und Wilhelmshaven, um diese zügiger zu realisieren. Im Gegenzug sollten die USA darauf verzichten, die rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten gegen Unternehmen auszuschöpfen, die an Nord Stream 2 beteiligt sind. Damit würden die Strafmaßnahmen gewissermaßen zurückgezogen. Bisher hat die US-Regierung auf das Schreiben von Scholz nicht geantwortet.

Es bleibt abzuwarten, ob Joe Biden als möglicher nächster US-Präsident die Opposition zum Pipeline-Projekt aufgibt oder die Sanktionen fallen lässt. Die Demokratische Partei steht bisher geschlossen hinter einer Einstellung von Nord Stream 2.

Unabhängig von der weiteren Entwicklung von Nord Stream 2 steht fest: Die Bundesregierung hat angesichts ihres langfristigen Einsatzes für die Pipeline und vor dem Hintergrund hoher Investitionen deutscher Unternehmen in das Infrastrukturprojekt in diesem geostrategischen Konflikt besonders viel zu verlieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte Anfang Juli im Deutschen Bundestag abermals, dass es richtig sei, dieses Projekt fertigzustellen – und in dem Sinne agiert die deutsche Regierung. Trotz aller Widerstände und Widrigkeiten rund um Nord Stream 2 geht man auch im Bundeswirtschaftsministerium davon aus, dass die Pipeline ihren Betrieb aufnehmen wird. Wann genau, ist ungewiss.

 

WEITERFÜHRENDE LEKTÜRE

Franz Ludwig Averdunk: Einhellige Kritik an US-Sanktionen gegen Ostsee-Pipeline; Deutscher Bundestag, Online-Dienste vom 1. Juli 2020

Tim Boersma, Tatiana Mitrova: The Impact of US LNG on Russian Natural Gas Export Policy; Report des Columbia University SIPA Center on Global Energy Policy vom 17. Dezember 2018

Atlantik-Brücke e.V.: Das Sanktionsregime des US-Senats gegen Russland; Themendossier der Atlantik-Brücke vom 12. Juli 2017

Atlantik-Brücke e.V.: „Es gibt auch mit Präsident Trump Anknüpfungspunkte“; Transatlantic Call der Atlantik-Brücke mit Sigmar Gabriel vom 6. Juni 2019

Michael Bauchmüller: Endspiel in der Ostsee; Süddeutsche Zeitung vom 13. Juni 2020

Daniel Brössler: Allianz gegen Washington; Süddeutsche Zeitung vom 17. Juni 2020

DIE ZEIT: Bundesregierung bietet eine Milliarde Euro zur Rettung der Pipeline; ZEIT Online vom 16. September 2020

European Commission: Energy union; ec.europa.eu vom 31. Juli 2020

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Nord Stream AG weist Drohungen Amerikas zurück; FAZ vom 27. Mai 2020

Christian Geinitz: Schröder für „schmerzliche Gegenreaktionen“; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Juli 2020

Wolfgang Ischinger: Why Europeans Oppose the Russia Sanctions Bill; Wall Street Journal vom 16. Juli 2017

Andreas Kluth: Nord Stream 2 Could Sever Transatlantic Ties; Washingtonpost.com vom 3. Juli 2020

Moritz Koch, Helmut Steuer, Klaus Stratmann: Sanktionen gegen Sassnitz – Wie Nord Stream 2 doch noch gestoppt werden soll; Handelsblatt vom 16. Juni 2020

Pavel Lokshin, Daniel Friedrich Sturm, Clemens Wergin: Deutschland in der Nord-Stream-Falle; Welt vom 28. Mai 2020

Pavel Lokshin: Der drohende Showdown in der Ostsee; Welt vom 22. Juli 2020

Ulf Lüdeke: Ex-Minister Gabriel: „Trump will Deutsche bestrafen und Kanzlerin hat keine Chance“; Focus Online vom 18. Juni 2020

Andreas Mihm, Jonas Jansen: Wirtschaft fordert Hilfe gegen Amerikas Sanktionsdrohungen; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Juli 2020

Anne Neumann, Leonard Göke, Franziska Holz, Claudia Kemfert, Christian von Hirschhausen: Erdgasversorgung: Weitere Pipeline ist überflüssig; DIW-Wochenbericht Nr. 27/2018, S. 589-597

Petr Polak: The Trouble With Nord Stream 2; Foreign Affairs vom 23. August 2017

Alexander Preker: US-Senatoren legen Pläne zu weiteren Sanktionen wegen Nord Stream 2 vor; SPIEGEL vom 5. Juni 2020

Süddeutsche Zeitung: US-Sanktions-Drohungen gegen Nord Stream 2: Kritik in MV; SZ vom 28. Mai 2020

Michael Thumann: Muss i denn …; DIE ZEIT Nr. 26/2020 vom 18. Juni 2020

Kirsten Westphal: Strategische Souveränität in Energiefragen; SWP-Aktuell Nr. 46 vom Juni 2020

ENTSTEHUNG DES BEITRAGS

Der hier vorliegende Text basiert auf eigenen Recher­chen und auf exklusiven Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, der Nord Stream 2 AG sowie des U.S. Department of State der Obama- und der Trump-Regierung.

IMPRESSUM
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Geschäftsführender Vorstand
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