Wirtschaft und Finanzen

Die teure Suche nach Verteidigungsfähigkeit

Die teure Suche nach Verteidigungsfähigkeit Prof. Dr. Michael Hüther Foto: Anika Dollmeyer

Europa rüstet auf – doch zwischen geopolitischem Druck, fragmentierten Märkten und knappen Haushalten formiert sich ein neuer Verteilungsstreit. Warum der Weg zu echter europäischer Verteidigungsfähigkeit weniger an militärischer Technik als an ordnungspolitischer und fiskalischer Einigung scheitert – und weshalb die Debatte über gemeinsame Finanzierung jetzt unausweichlich wird.

Von Prof. Dr. Michael Hüther

Drei Informationen inspirieren aktuell und grundsätzlich die Diskussion, wie Europa zu neuer Verteidigungsfähigkeit gelangen kann:

1) Das SIPRI veröffentlichte diese Woche, dass „2024 … die weltweiten Rüstungsumsätze den höchsten Punkt erreicht [haben], den wir jemals gemessen haben. Sie lagen bei 679 Milliarden US-Dollar“. Dabei konnten die 26 europäischen Konzerne den Umsatz um 13 Prozent und damit stärker als die 39 US-Wettbewerber steigern, deren Umsatz um 3,8 Prozent wuchs.

2) Die Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über dessen Beitritt zum 150 Milliarden Euro großen Verteidigungsfonds SAFE sind vorerst gescheitert.

3) Die Anzahl der Waffensysteme bei den europäischen Armeen liegt unverändert bei dem Vierfachen der USA; der europäische Markt für Verteidigungsgüter ist entsprechend fragmentiert.

Der Rüstungshochlauf hat bereits 2015 eingesetzt

Und er gewinnt nun weiter an Fahrt. Die europäischen NATO-Staaten stehen vor der Herausforderung, ihren Bedarf finanziell tragbar in überhitzten Märkten zu decken. Nachteilig wirkt sich aus, dass sie es nie geschafft haben, die Kleinteiligkeit der Aufträge zu überwinden. Die Militärs haben zudem offensichtlich ein Faible für Sonderausstattungen, obgleich die USA zeigen, dass es auch anders geht. Damit ergeben sich ganz andere Möglichkeiten der Skalierung, allerdings auch Abhängigkeiten von einzelnen oder wenigen Produzenten. Der erwähnte Umsatz für 2024 wurde weltweit von 100 Unternehmen erwirtschaftet.

Marktordnung für Aufrüstung

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie unter den obwaltenden Herausforderungen einer nachholenden und deshalb beschleunigten Aufrüstung in Europa nach ordnungspolitischen Kriterien zu beurteilen ist. Man wünschte sich einen wettbewerbsintensiven Markt, der den Auftraggebern vielen Optionen offeriert und situationsbedingte Zusatzrenditen vermeidet.

Tatsächlich aber ist die Entwicklung der Wehrtechnik mit hohen Synergien in bestehenden Kooperationen und Konsortien verbunden, Kunde und Hersteller erfahren schnell eine wechselseitige Abhängigkeit. Entsprechend enthält der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (Art. 346 AEUV) für die militärische Beschaffung eine Ausnahme von den Binnenmarktregeln.

Die 2017 etablierte ständige strukturierte Zusammenarbeit von Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (PESCO) hat bisher nicht zu einer wirksamen Skalierung von Rüstungsprojekten geführt. Denn immer noch dominieren nationale Vorschriften für den Export und den Transfer von Rüstungsgütern.

Bislang nur wenig Zusammenarbeit

Kooperationen von Rüstungsunternehmen – wie die deutsch-französische Zusammenarbeit für den „Panzer der Zukunft“ ab dem Jahr 2040 – bilden eher die Ausnahme und bieten im Übrigen angesichts des organisatorischen Rahmens keine Gewähr für funktionale Effizienzgewinne; immerhin erfolgte die Genehmigung seitens der EU-Kommission einigermaßen zügig. Doch die EU geht davon aus, dass derzeit rund 80 Prozent der Verteidigungsgüter auf nationaler Basis beschafft werden.

Passenderweise werden die Anstrengungen zu einer Beschleunigung der Beschaffungsverfahren national vorangetrieben, wie die entsprechende Gesetzesnovelle der Bundesregierung vom Sommer dieses Jahres zeigt.

Gemeinsamer Verteidigungsfonds

Der Verteidigungsfonds SAFE soll verbesserte Anreize für eine gemeinsame Beschaffung setzen. Doch die Einbindung der Briten, die während ihrer Mitgliedschaft jede Vertiefung verteidigungspolitischer Kooperation verhindert haben, ist bisher nicht gelungen. Dass die EU auf einen fairen Finanzierungsbeitrag setzt, der den erwartbaren wirtschaftlichen Nutzen und die Größe der Verteidigungsindustrie reflektiert, ist angesichts der Regelung, dass mindestens 65 Prozent der Aufträge Wertschöpfung in Europa schaffen sollen, grundsätzlich verständlich.

Das kann man unter Wettbewerbsgesichtspunkten kritisch sehen, allerdings spricht die notwendige technologische Resilienz der europäischen Verteidigungsfähigkeit genau dafür. Die Erfahrungen mit Beschaffungen in den USA – wie seitens der Bundespolitik im März 2022 für die 35 F-35-Kampfjets beschlossen – zeigen die hohe Abhängigkeit von der Zustimmung der US-Regierung.

Eigene Förderbank

Ein jüngerer Vorschlag für die Mobilisierung einer stärker europäisch koordinierten Beschaffung bezieht sich auf eine spezielle Förderbank für die Finanzierung von Rüstungskäufen, eine EU-Rüstungsbank, analog zur Osteuropabank. Diese Idee gewinnt vor dem Hintergrund der finanziellen Restriktionen der öffentlichen Haushalte in der Eurozone in der Debatte an Bedeutung.

Die Staaten würden die Bank mit Kapital ausstatten, um auf dieser Basis eine bei gutem Rating günstig gehebelte Kreditvergabekapazität zu schaffen. Daraus würden dann beauftragende Staaten, aber auch investierenden Rüstungsunternehmen Finanzierungen zur Verfügung gestellt. So ließen sich Bestellungen bündeln und weltweit ausschreiben, was mit Blick auf das Resilienzargument kritisch erscheint.

Verteidigungsfähigkeit steht im Verteilungsstreit

Die Belastung der öffentlichen Haushalte kann am Ende nicht getarnt werden. Man wird deshalb an der politischen Diskussion und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die künftige Aufteilung des Steueraufkommens für Staatsverbrauch und Verteidigung, also dem damit unvermeidbar verbundenen Verteilungsstreit nicht vorbeikommen. Denn auch die Bereichsausnahme für Verteidigung von der grundgesetzlichen Schuldenbremse ist längerfristig nicht tragfähig, wenn man einen dynamischen Anstieg der Schuldenquote vermeiden will.

Eine Rückführung der gesamten Verteidigungsausgaben in den Kernhaushalt des Bundes muss auf mittlere Frist angestrebt werden. Dafür sind bereits jetzt die budgetpolitischen Voraussetzungen einzusteuern. Die Verteidigungsfähigkeit steht im Verteilungsstreit. Geopolitik betrifft schließlich jeden.

Über den Autor:  Seit 2004 leitet Hüther das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Von 1995 bis 1999 war er Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zwischenzeitlich hat er im Privatsektor, bei der Deka-Bank, als Ökonom gearbeitet. Hüther ist stellvertretender Vorsitzender der Atlantik-Brücke.

Dieser Artikel wurde zuerst bei Süddeutsche Zeitung Dossier veröffentlicht.

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