75 Jahre NATO

Leben im Zoo oder Überleben im Dschungel?

Gastbeitrag von Dr. Stefanie Babst zum 75-jährigen Bestehen der NATO
Leben im Zoo oder Überleben im Dschungel?

Die vergangenen Jahrzehnte haben die westlichen Gesellschaften in einem gut gesicherten Zoo verbracht. Könnten sie auch in einem Dschungel überleben? Überlegungen zum Zustand und zu den künftigen Herausforderungen der NATO in ihrem Jubiläum zum 75-jährigen Bestehen

Von Dr. Stefanie Babst

Um mit den positiven Nachrichten zu beginnen: Der Zuwachs, den die NATO bekommen hat, ist erstklassig. Mit Schweden und Finnland sind zwei politisch solide, wirtschaftlich und technologisch hochwertige sowie militärisch schlagkräftige Länder zu dem Kreis der Verbündeten gestoßen. Dass sie ihre langjährige, gesellschaftlich fest verankerte Neutralität für eine Mitgliedschaft in der NATO aufgegeben haben, spricht für ihre Fähigkeit, die neue strategische Lage unaufgeregt zu bewerten und konsequent danach zu handeln.

Dennoch darf das 75-jährige Bestehen des Militärbündnisses nicht dazu verführen, sich selbstzufrieden zu feiern. Bislang hat die militärische Abschreckungs- und Verteidigungsbereitschaft der Bündnispartner ausgereicht, um das revanchistische Moskau davon abzuhalten, seine zaristischen Träume auch auf dem Territorium der Allianz auszuleben; beispielsweise mit der Einverleibung der baltischen Staaten und Teilen Polens. Aber das muss nicht so bleiben.

Sollte es Russland gelingen, die Ukraine militärisch zu unterwerfen oder sich dauerhaft in den besetzten Gebieten zu halten, wird sich kein neuer stählerner Vorhang über Europa senken, sondern eher ein loses Tarnnetz, das Putin versuchen wird, weiter zu durchlöchern.

Putins Regime ist nicht an der Aufrechterhaltung des machtpolitischen Status Quo interessiert

Im Gegensatz zum Kalten Krieg ist das Putinsche Mafiaregime nicht an der Aufrechterhaltung des machtpolitischen Status Quos interessiert; weder in Europa noch im Rest der Welt. Während die Mitglieder des kommunistischen Politbüros primär auf die Absicherung ihres sowjetischen Herrschaftsbereiches fokussiert waren, wollen Putin und seine Korona nicht nur die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten, sondern die europäische Sicherheitsordnung in einen Dschungel verwandeln, in dem die gewaltbereiten Alphamännchen (als solchen sieht sich Putin) das Sagen haben. Ziel ihres Unterfangens ist nicht nur die geographische Ausweitung der russischen Einflusssphäre, sondern die Zersetzung des transatlantischen Bündnisses und der Europäischen Union.

Dabei kann der Kreml auf die tatkräftige Unterstützung anderer autoritärer Regime zählen: China, der Iran, Nordkorea, aber auch eine erkleckliche Anzahl stiller Freunde in Indien, Ägypten, Südafrika und anderen Ländern des Globalen Südens sorgen dafür, dass Russland international nicht isoliert ist und seine Kriegsmaschinerie stetig befeuern kann.

Das fundamentale Problem, das sich für das westliche Militärbündnis daraus ergibt, ist, dass seine strategischen Gegner keine Tabubrüche scheuen. Moskau lässt keine Gelegenheit aus, um die NATO-Mitglieder unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt, also mit dem ganzen Spektrum hybrider Instrumente, anzugreifen. Putin droht unverhohlen mit nuklearer Eskalation und orchestriert ununterbrochen Desinformationskampagnen, die gezielt gesellschaftliche Ängste befördern und die politische Polarisierung vertiefen. Wie man nicht nur in Deutschland und Amerika sehen kann, ist Putins Methode durchaus erfolgreich.

Die NATO setzt Russlands toxischem Expansionismus nichts entgegen

Jenseits des NATO-Zauns hat die militärische Abschreckung des Bündnisses keinerlei Wirkung. In der Ukraine wüten russische Truppen seit mehr als zwei Jahren mit zügelloser Gewalt, ohne dabei auf eine andere als ukrainische Gegenwehr zu stoßen. Unverhohlen bedroht der Kreml auch das kleine Moldawien und Georgien. Dass es sich bereits Weißrussland zum Vasallen gemacht hat und in dem fragilen Gewebe des westlichen Balkans unverdrossen seine Sprengsätze legt, nimmt die NATO unter Protest zur Kenntnis; aber sie setzt dem nichts entgegen. Moskaus toxischer Expansionismus beschränkt sich nicht nur auf Europa. Seine engen Beziehungen zu dem Regime im Iran und diversen islamistischen Terrororganisationen wie der Hamas geben Russland im Nahen Osten und Teilen Afrikas die Möglichkeit, weitere Kriegsschauplätze zu beeinflussen, ohne allzu sichtbar zu sein.

Wenn das westliche Verteidigungsbündnis auch zukünftig funktionsfähig bleiben will, muss es sich auf ein Überleben im Dschungel einstellen.

Wenn das westliche Verteidigungsbündnis auch zukünftig funktionsfähig bleiben will, muss es sich auf ein Überleben im Dschungel einstellen. Dazu gehört in erster Linie der politische Wille, sich seinen Gegnern zu stellen und mit allen Mitteln verteidigen zu wollen. Ohne feste Entschlossenheit sowie ausreichende militärische Fähigkeiten wird das Bündnis seine Glaubwürdigkeit verlieren.

Auch zwei Jahre nach Beginn des Krieges in der Ukraine hat das Bündnis keine Strategie gegenüber dem Aggressor

Dr. Stefanie Babst

Aber genau diesen Eindruck versucht die NATO um jeden Preis zu vermeiden. Auch zwei Jahre nach Beginn des Krieges in der Ukraine hat sie keine Strategie gegenüber dem Aggressor Russland und nur eine vage Vorstellung darüber, wie der Krieg aus ihrer Sicht enden sollte. In den Reihen der Verbündeten gibt es dafür schlicht keinen Konsens. Für die einen ist es ein notwendiger Krieg, der ihre eigene Sicherheit existentiell bedroht; für andere bleibt er ein optionaler Krieg, der keine absolute Priorität genießt. Die deutsche Regierung möchte Russlands Angriffskrieg am liebsten gänzlich ignorieren und hofft, irgendwann wieder mit dem Putin-Regime koexistieren zu können. Dass das Bündnis mit der Türkei, der Slowakei und Ungarn auch noch drei Moskau-freundliche ‚Trojanische Pferde‘ in ihren Reihen hat, macht die Konsensfindung nicht einfacher.

Der Supergau für alle wäre ein Rückzug der Amerikaner aus dem Bündnis. Präsidentschaftskandidat Donald Trump macht keinen Hehl daraus, dass er die NATO einschläfern und einen Deal mit Russland anstreben will. Für die Ukraine will er ‚keinen Penny‘ ausgeben. Aber selbst ohne einen zweiten ‚Trump win‘ könnte ein republikanisch dominierter Kongress weiter die finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine blockieren. So oder so: Künftig werden die Europäer für ihre eigene Sicherheit zu großen Teilen selbst sorgen müssen.

Die Allianz hat etliche Baustellen, die sie angehen muss. Aber die übergeordnete strategische Frage ist und bleibt, ob ihre Mitglieder die Einsicht entwickeln können, dass Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine auch für sie ein ‚war of necessity‘ ist? Wenn dem so sein könnte, würde sich die Entwicklung einer robusten Eindämmungsstrategie gegen Moskau und die Mobilisierung aller militärischen, rüstungswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mittel automatisch ergeben. Leider bringen gegenwärtig nur einige NATO-Mitglieder den Mut auf, den vermeintlich sicheren Zoo zu verlassen. Sie sollten eine Koalition der Willigen bilden und damit beginnen, sich nicht nur in sicherer Entfernung hinter die Ukraine, sondern direkt an ihre Seite zu stellen und dem selbsternannten Alpha-Männchen im Kreml deutlich zu machen, dass Europa nicht gewillt ist, seine Gewaltherrschaft zu akzeptieren. Ein solcher Schritt ist alternativlos, denn ohne Begrenzung wird sich der Dschungel weiter ausbreiten.

Dr. Stefanie Babst ist stellvertretende Beigeordnete NATO-Generalsekretärin a.D., strategische Beraterin und Autorin von „Sehenden Auges – Mut zum strategischen Kurswechsel“.

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