Gesellschaft

Antisemitismus: Ein massives Problem

von Remko Leemhuis

Im Jahr 2020 registrierte das Bundeskriminalamt mit 2.351 antisemitischen Straftaten den höchsten jemals gemessenen Wert seit Beginn der Erfassung judenfeindlicher Straftaten im Jahr 2001 in der Statistik der „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK). So alarmierend diese Zahlen sind, bilden selbst diese nur einen Teil des tatsächlichen Problems ab. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Zahlen noch höher liegen, unter anderem auch weil viele Straftaten und Vorfälle von den Betroffenen zum Teil aus Angst oder mangelndem Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden nicht zur Anzeige gebracht oder gemeldet werden.

Auf der anderen Seite des Atlantiks registrierte das FBI mit 1.174 Straftaten aufgrund von Religionszugehörigkeit für 2021 einen Anstieg der Vorfälle. Über die Hälfte (54,9%) der Opfer dieser Straftaten waren Jüdinnen und Juden. Diese Zunahme führt nicht zuletzt auch zu massiven Einschränkungen im Alltag, was auch für Deutschland zutrifft. So gaben 22% der amerikanischen Juden in einer vom American Jewish Committee in Auftrag gegebenen Umfrage an, dass sie das Tragen von Symbolen, die ihre jüdische Identität sichtbar machen, in der Öffentlichkeit vermeiden.

Antisemitismus stellt auf beiden Seiten des Atlantiks ein massives Problem dar und nimmt seit Jahren zu.

Auch wenn sich die Zahlen der Straftaten aufgrund verschiedener Erfassungssysteme in beiden Ländern nur begrenzt vergleichen lassen, so wird aus diesen Ergebnissen dennoch deutlich, dass Antisemitismus auf beiden Seiten des Atlantiks ein massives Problem darstellt und seit Jahren zunimmt.

Worin liegen nun die Ursachen für diese Zunahme?

Auch wenn bei dieser Bewertung Vergleiche ebenso schwierig sind, lässt sich dennoch feststellen, dass Zeiten der Krise stets ein guter Nährboden für Populistinnen und Populisten waren. Sie geben einfache Antworten auf komplexe politische, ökonomische und medizinische Probleme und Herausforderungen und vermuten hinter diesen Entwicklungen stets sinistere Verschwörungen einer im Verborgenen agierenden kleinen Elite. Dies wurde nicht zuletzt in den vergangenen zwei Jahren im Zuge der Proteste, die sich vordergründig gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wendeten, deutlich. Bei diesen Protesten gehört es mittlerweile zum Standardrepertoire, Namen wie Rockefeller oder Rothschild als vermeintliche Profiteure der Krise zu nennen. Dies verdeutlicht gleichsam den subtilen Charakter des Antisemitismus, denn es bedarf keiner weiteren Erklärung, dass damit Juden oder als jüdisch markierte Personen gemeint sind. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Proteste verstehen die Anspielungen auch ohne diesen expliziten Zusatz.

Zeiten der Krise waren stets ein guter Nährboden für Populistinnen und Populisten.

Indes kann nur davor gewarnt werden, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste als harmlose Spinner abzutun oder zu meinen, dass es sich bei ihnen um eine politisch und ökonomisch abgehängte Minderheit handelt. Wie die Leipziger Autoritarismus-Studie aus dem Jahr  2020 belegt, reicht der Glaube an Verschwörungserzählungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft. So stimmten etwa 34,8 % der deutschen Bevölkerung mehr oder weniger stark der Aussage zu, dass der Einfluss der Jüdinnen und Juden auch heute noch zu groß sei. Ebenso sei hier erwähnt, dass der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, in dem Magazin Cato, das dem Spektrum der Neuen Rechten zugerechnet wird, etwa erklärt, dass sich das globale „Eigentum und globale Profite zunehmend auf einige tausend Familien […] konzentrieren, die sich daranmachen, bald alles zu besitzen“. Strukturell antisemitische Aussagen wie diese erinnern nicht nur zufällig an die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, das historisch wohl wichtigste antisemitische Pamphlet.

Auch in den USA beobachten wir eine Popularisierung antisemitischer Verschwörungserzählungen.

Auch in den USA beobachten wir eine Popularisierung antisemitischer Verschwörungserzählungen. Hier ist vor allem an den Verschwörungsmythos „QAnon“ zu denken, der sich auch in Deutschland rasch verbreitete. Hinter „QAnon“ verbirgt sich die Idee der Existenz eines satanischen Kinderhändlerrings bzw. Netzwerkes, welches das Blut von Kindern nutze, um daraus das Stoffwechselprodukt Adrenochrom zu gewinnen, das den Alterungsprozess verhindere. Auch hier finden sich immer wieder klassische antisemitische Ressentiments wie z.B. die Ritualmordlegende. Selbst wenn diese Vorstellungen im ersten Moment absurd klingen mögen, kann nicht deutlich genug betont werden, dass diese Narrative brandgefährlich sind und zu erheblichen Gewalttaten bis hin zu Morden führen können. So tötete im August 2021 ein Vater in Kalifornien seine beiden Kinder, weil er durch den Verschwörungsmythos „QAnon“ zu der Überzeugung gelangt war, dass das Blut seiner Kinder verunreinigt sei und sie zu Monstern gemacht hätte. Und auch die Attentäter von Halle und Hanau hingen antisemitischen Verschwörungsideologien an. Die genannten Vorfälle verdeutlichen exemplarisch, dass diese Phänomene ernst genommen werden müssen.

Gerade das Beispiel „QAnon“ zeigt, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht an den Staatsgrenzen haltmachen kann, denn die Verschwörungsgläubigen sind über das Internet und seine Möglichkeiten global bestens vernetzt. Daher muss, wie bei so vielen anderen Herausforderungen dieser Tage, auch die Bekämpfung international erfolgen, etwa durch eine bessere Vernetzung der Sicherheitsbehörden diesseits und jenseits des Atlantiks – geht es hier am Ende doch um nicht weniger als um die Verteidigung unserer liberalen Demokratien.

Ich danke meiner Kollegin Annina Fichtner und meinem Kollegen Ruben Gerczikow für ihre Hinweise.

Dr. Remko Leemhuis ist Direktor des AJC Berlin. Inhaltliche Schwerpunkte seiner Arbeit sind gegenwärtiger Antisemitismus, Islamismus und sicherheitspolitische Fragen. Ebenso setzt er sich für die Stärkung des transatlantischen Verhältnisses und der deutsch-israelischen Beziehungen ein.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

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