Breedlove: „Die NATO muss Abschreckung neu erlernen“
General Philip M. Breedlove war der oberste NATO-Befehlshaber in Europa, als Russland 2014 die Krim annektierte und die Ost-Ukraine angriff. Bei einer Diskussion der Atlantik-Brücke hat er die überragende Bedeutung des Bündnisses betont und dessen strategischen Herausforderungen erläutert.
Von Robin Fehrenbach
Der frühere Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) der NATO, General Philip M. Breedlove, hat die große Bedeutung des westlichen Militärbündnisses unterstrichen. „Heute ist die NATO wichtiger, als sie es jemals war“, sagte Breedlove in einer Roundtable-Diskussion der Atlantik-Brücke im Berliner Magnus-Haus. Im Gespräch mit dem Vorsitzenden Sigmar Gabriel erläuterte er, worauf es der NATO im 70. Jahr ihres Bestehens und 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer strategisch ankommen sollte. „Die NATO muss Abschreckung auf allen Ebenen neu erlernen“, sagte Breedlove, der heute unter anderem als strategischer Berater für Lockheed Martin wirkt und am Georgia Institute of Technology lehrt.
Der Kalte Krieg sei eine sehr herausfordernde Zeit für die transatlantische Allianz gewesen, aber die NATO habe den Gegner zumindest strategisch sehr gut verstanden, sagte Breedlove. Das Gleichgewicht der Kräfte und des Schreckens habe für relativ stabile geopolitische Verhältnisse gesorgt. Heute dagegen seien die Frontlinien verzerrt. Russland habe in den vergangenen fünf Jahren im Fall der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und des Angriffs im Donbass nicht nur zweimal die territoriale Integrität der Ukraine verletzt. „Unsere Allianz wird auch permanent im Cyberspace attackiert. Die hybride Kriegsführung ist hochkomplex“, betonte Breedlove.
Verstärkte Zusammenarbeit in konventioneller, nuklearer und hybrider Abschreckung nötig
Was folgt aus dieser sicherheitspolitischen Lagebeschreibung? Erstens werde die konventionelle Abschreckung der NATO dadurch verbessert, dass die Zusammenarbeit und die Investitionen im Bereich der konventionellen Fähigkeiten – insbesondere in der Dichte und den Kapazitäten der Luftverteidigung – verstärkt werden, sagte der ehemalige General. Zweitens sei die nukleare Abschreckung des Bündnisses herausgefordert. Dies gelte in verschärfter Weise seit dem faktischen Ende des INF-Vertrages, an den sich inzwischen weder Russland noch die USA gebunden fühlen. Die Rückversicherung in Bezug auf das Verbot der Entwicklung, des Testens, des Betriebs und der Weiterverbreitung von landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen habe damit klar nachgelassen. Drittens sei die Fähigkeit der Abschreckung der transatlantischen Allianz in der hybriden Welt nicht gegeben: „Denn wir haben noch nicht damit begonnen, diese Art der Abschreckung substanziell zu formen.“ Die einstmals klare Konstellation der Bedrohung sei nun unklar.
Für den früheren SACEUR ist es offensichtlich, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Zusammenhalt innerhalb der NATO und der Europäischen Union aufbrechen will und gezielt nach Rissen im Bündnis und in der Gemeinschaft sucht. „Putin will unsere westlichen Demokratien stören, diskreditieren und spalten“, konstatierte Breedlove. Russland habe in die amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 eingegriffen und er sei sehr besorgt mit Blick auf die bald einsetzenden Vorwahlen für die Wahl 2020. Da die westlichen Demokratien und Werte derart bedroht seien, sei die wichtigste Aufgabe der NATO als starke und resiliente Partnerschaft von Verbündeten der Zusammenhalt und der Fokus auf exakt diese Bedrohung. Die Gipfeltreffen des Bündnisses in Wales und Warschau könnten lediglich als Anfänge einer strategischen Entwicklung betrachtet werden, die noch nicht abgeschlossen sei.
Von Deutschland wird Verantwortung zur Führung erwartet
Über allem müsse stehen, dass die Allianz jederzeit darauf vorbereitet ist, einen Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags auszulösen. Breedlove erinnerte in diesem Kontext an das berühmte Diktum des früheren US-Präsidenten George H. W. Bush, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland nach dem Fall der Berliner Mauer und dem einsetzenden europäischen Einigungsprozess „Partners in Leadership“ seien, und schloss seine Ausführungen mit den Worten: „Auch Deutschland muss in diesem Sinne führen.“ Die Bundesrepublik sei neben den Vereinigten Staaten das wichtigste NATO-Mitglied. Die USA kämen ihrem Teil der Verantwortung nach: Seit dem Frühjahr 2014 hätten die Vereinigten Staaten ihre Truppenstärke und Verteidigungsmittel in Europa jährlich weiter erhöht.
Die anschließende Runde der Fragen und Antworten mit den etwa 40 Mitgliedern der Atlantik-Brücke spannte einen weiten und facettenreichen Bogen durch verschiedenste Bedrohungen der transatlantischen Partnerschaft. Die Diskussion behandelte unter anderem die Konsequenzen des Kaufs von russischen S-400-Flugabwehrsystemen durch die Türkei, die sicherheitspolitischen Implikationen eines Aufbaus von 5G-Netzwerken durch den chinesischen Kommunikationsausrüster Huawei, die wegen der schmelzenden Polkappe an der Arktis befahrbar werdende Nord-Ost-Passage zwischen dem Norden Europas und Asien sowie rechtlich neu zu klärende Besitzansprüche des Festlandsockels und der Gewässer am Nordpol sowie die Situation in Syrien.