Gesellschaft

Das amerikanische Migrationsdilemma

Das amerikanische Migrationsdilemma Foto: Unsplash/Barbara Zandoval

von Michael Werz

Kein politisches Thema ist in der Einwanderernation Amerika so explosiv wie das der Immigration. Die aktuelle Krise an der U.S.-mexikanischen Grenze bietet die perfekte Folie für politische Schattenboxerei und nationalistische Mobilisierung – aber sie fordert zugleich eine Grundsatzdebatte um Rechtstaatlichkeit, das Amerika des 21. Jahrhunderts und die Regionalisierung Zentralamerikas. Zurzeit erreichen jeden Tag über 500 unbegleitete Minderjährige die Südgrenze der USA. Allein im Februar waren es fast doppelt so viele wie im gesamten vergangenen Jahr und inzwischen befinden sich mehr als 15.000 unbegleitete Kinder in Gewahrsam der vollkommen überforderten Grenzbehörde CBP. Sie verbringen dort im Schnitt 136 Stunden, weit mehr als die gesetzliche 72-Stunden-Grenze. Die meisten kommen aus dem „Northern Triangle“, einer Region mit knapp 35 Millionen Einwohnern, zu der Honduras, El Salvador und Guatemala gehören. Sie fliehen vor enormer Gewalt, Armut und Umweltkatastrophen, oftmals zu Familienangehörigen, die sich bereits in den USA befinden.

Zurzeit erreichen jeden Tag über 500 unbegleitete Minderjährige die Südgrenze der USA.

Wie hoch der politische Druck ist, zeigte sich auf Joe Bidens erster Pressekonferenz in der vergangenen Woche, auf der dieser versuchte, das Problem kleinzureden und danach Vizepräsidentin Kamala Harris damit beauftragte, sich des Themas anzunehmen. (Spitze Zungen verglichen diese Herausforderung mit dem Auftrag, in ein brennendes Gebäude hineinzulaufen). Wie gewohnt lassen politische Vergiftungen keine vernünftige Diskussion darüber zu, dass Nordamerika immer mehr zu einer politischen und sozioökonomischen Einheit geworden ist und Zentralamerika dazugehört. Joe Bidens Wahl hatte weltweite Konsequenzen: Die amerikanischen Rednecks horteten noch mehr Waffen, auch die chinesische KP verrannte sich in Fundamentalopposition und die pragmatischen Zentralamerikaner wetteten zurecht darauf, dass die USA ihre völkerrechtlichen Pflichten ernst nehmen und moralische Kriterien im Umgang mit Flüchtlingen wieder eine Rolle spielen würden.

Saisonale Migrationsschübe sind nichts Neues, es gab sie auch unter Präsident Barack Obama im Jahr 2014 und während der Trump Ära 2019. Geändert hat sich jedoch die Einstellung im Weißen Haus: Joe Biden und sein gerade installierter Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas (der erste Latino auf diesem Posten) weigern sich, Kinder und Jugendliche kurzerhand wieder aus dem Land zu werfen und erneut den Gefahren auszusetzen, vor denen sie flohen. Auch die Käfige der Trump-Zeiten sind rechtsstaatlicher Bürokratie gewichen, die Kinder durchlaufen nun ein Einwanderungsverfahren, um festzustellen, ob sie in den USA bleiben dürfen – und das nimmt Zeit in Anspruch. So kämpft die Biden-Administration mit der enormen logistischen Herausforderung, die 15.000 in ihrer Obhut befindlichen Kinder angemessen unterzubringen. Einige enden in Hafteinrichtungen, weil die Plätze in Gemeindezentren, Unterkünften des Gesundheitsministerium und bei lokalen Gastfamilien nicht ausreichen. Ein Problem liegt darin, dass die Trump-Administration die bestehende Infrastruktur zerschlagen und alle verfügbaren Gelder in den aberwitzigen Mauerbau umgeleitet hatte.

Immerhin machte Biden auf seiner Pressekonferenz klar, dass rücksichtslose Abschiebungen wie unter seinem Vorgänger ein absolutes Tabu sind und „dafür, dass wir die Politik der Trennung von Familien revidieren, werde ich mich nicht entschuldigen“, diktierte er der Presse.

Die Grenze wird zur bevorzugten Kulisse für politische Werbegags.

Und die Republikaner? Die sind, wenig überraschend, der Meinung, dass rechtskonformes Regierungshandeln und einwandernde Kinder die USA in ihren Grundfesten erschüttern. Allen voran Ted Cruz, der sich vor einigen Tagen mit republikanischen Senatskollegen auf einem mit Maschinengewehren bestückten Boot der Grenzschützer auf dem Rio Grande herumfahren ließ und danach eine Art politisches Abenteuervideo auf seinem Twitter-Konto nachlegte. Die Grenze wird zur bevorzugten Kulisse für politische Werbegags. Florida-Senator Rick Scott erklärte faktenfrei, Joe Biden wolle die Schulen für Amerikaner schließen und die Grenzen öffnen und Senator John Cornyn aus Texas beschwerte sich via Twitter darüber, dass Präsident Biden Flüchtende menschlich behandele und dies ein Problem sei. Dass die aktuellen Verfahren des Umgangs mit unbegleiteten Kindern grundlegende ethische Prinzipien respektieren und auch in Ländern wie Spanien, Schweden, Deutschland oder der Schweiz praktiziert werden, gilt den Republikanern eher als Negativum.

Hinzu kommt, dass die Diskussion auf eine erstaunliche Weise statisch geführt wird. Weder Vergangenheit noch Zukunft spielen eine nennenswerte Rolle. Das ist nicht unwichtig, denn zum einen tragen die USA einen Großteil der Verantwortung an den Verheerungen in Zentralamerika. Darüber hinaus benötigen die Vereinigten Staaten schon in wenigen Jahren dringend neue Einwanderer.

Die USA tragen einen Großteil der Verantwortung an den Verheerungen in Zentralamerika.

Der Reihe nach: Salvador erlebte einen brutalen Bürgerkrieg, der von 1979 bis 1992 andauerte und in dem die von den USA unterstützte Militärregierung mit Todesschwadronen, massiver Repression, Kindersoldaten und Menschenrechtsverletzungen agierte. Die Regierungsmilizen griffen unbewaffnete Zivilisten, Kirchen und Kinder an, schreckten auch vor Verstümmelungen und Folter nicht zurück. Die US-Unterstützung für die Militärdiktatur erstreckte sich von der Carter- bis zur Reagan-Administration, zuletzt mit knapp zwei Millionen Dollar täglicher Unterstützungszahlungen. In Guatemala unterstützte die CIA 1954 einen Militärputsch gegen eine gewählte Regierung. Die Diktatur mündete schließlich in einen fast vier Jahrzehnte langen Bürgerkrieg, der erst 1996 endete und zwischen 150.000 und 200.000 Menschenleben kostete. Die US-Unterstützung des Militärs überdauerte, offiziell oder inoffiziell, alle Administrationen von Kennedy bis Clinton. Honduras, die eigentliche „Bananenrepublik“ des Kontinents, war seit Beginn des 20. Jahrhunderts eng an die wirtschaftlichen und militärischen Interessen der USA gebunden, in den 80er Jahren wurde das Land zur Drehscheibe antikommunistischer Angriffe auf Nicaragua. US-Geheimdienste unterstützten außergerichtliche Tötungen durch honduranische Regierungseinheiten in einem Stellvertreterkrieg, der in ganz Mittel- und Südamerika geführt wurde. Die aktuellen Migrationsbewegungen sind ohne diesen Kontext nicht angemessen zu verstehen, denn Armut und Korruption im „Northern Triangle“ sind direktes Resultat von Gewalterfahrungen, die bereits zwei Generationen währen – Einwicklungen, an denen viele US- Administrationen unmittelbar beteiligt waren.

Ebenso wichtig ist der Blick in die Zukunft, denn die USA brauchen Einwanderer. Zwei Entwicklungen sind hierfür zentral: Zum einen wird Mexiko (über Jahrzehnte hinweg eines der weltweit größten Emigrationsländer) in absehbarer Zeit keine Migranten mehr an die USA abgeben. Das Land hat eine der weltweit am schnellsten fallenden Geburtenraten, die inzwischen landesweit bei 2.1 liegt und in den Großstädten darunter, also etwa auf deutschem Niveau und weit unter der Reproduktionsgrenze. Mexikos Bevölkerung wird zwar in den kommenden Jahren von 130 auf etwas über 150 Millionen steigen, danach aber schnell schrumpfen. Hinzu kommt, dass sich das Land ökonomisch entwickelt und die Bevölkerung rapide altert. 1975 lag das statische Durchschnittsalter noch bei 17 Jahren, heute sind es 30 und 2050 rund 40 Jahre. Long story short: Es die Zahl der Mexikaner im arbeitsfähigen Alter wird deutlich sinken, im Land sind besser bezahlte Jobs zu haben und immer mehr alte Familienangehörige bedürfen der Pflege und Unterstützung ihrer Kinder – Mexikaner werden in Mexiko bleiben, denn die Push-Faktoren reduzieren sich.

Der Bedarf an qualifizierter wie unqualifizierter Arbeitskraft wird in den USA in den kommenden Jahrzehnten kontinuierlich steigen.

Gleichzeitig wird der Bedarf an qualifizierter wie unqualifizierter Arbeitskraft in den USA in den kommenden Jahrzehnten kontinuierlich steigen. Im Moment gehen täglich über 10.000 Amerikaner aus der Baby-Boomer-Generation in Pension, also fast vier Millionen im Jahr. Bereists jetzt sind 14 Prozent der US-Bevölkerung über 65 Jahre alt, viele verfügen über erhebliche ökonomische Ressourcen und produzieren durch aktive Lebensführung nicht nur Nachfrage nach Dienstleitungen und Unterhaltung, sondern im zunehmenden Alter auch an Hilfsleistungen im Haus, Garten und am Krankenbett. Weil diese Arbeiten auch niedrig qualifizierter Arbeitskräfte bedürfen, sind Einwanderungsreformen mit Punkte- und Qualifikationskriterien allein nicht ausreichend. In den vergangenen Jahrzehnten hat gerade die Latino-Gemeinschaft in den USA bewiesen, dass fehlende Bildung weder die Integration, noch den wirtschaftlichen Aufstieg verhindert.

Aber solche Debatten sind in weiter Ferne. Die beharrliche Realitätsverweigerung der zerfallenden republikanischen Partei, die Tendenz vieler Demokraten, sich zuerst an den Ressentiments der eigenen Wähler zu orientieren und eine für die USA neue Verunsicherung nach der Pandemie, der Trump-Ära und globalen Umbrüchen halten weiter an. Stimmen der Vernunft dringen nur selten durch. Veronica Escobar, demokratische Abgeordnete des U.S. Repräsentantenhauses aus San Antonio in Texas kritisierte die verantwortungslosen Schauspieleinlagen ihrer republikanischen Gegenspieler und erinnerte daran, dass sie vier Jahre lang die Chance zum Regieren gehabt und nicht genutzt hätten. „Wir werden hoffentlich erkennen, dass man Migration nicht aufhalten kann“, die einzige realistische Option sei, mit den politischen Partnern in der Region so gut wie möglich zusammenzuarbeiten. Die Ironie der Geschichte liegt auch darin, dass die USA während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dafür gesorgt haben, dass es diese Partner nicht gibt.

Michael Werz ist Senior Fellow am Center for American Progress in Washington DC und Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke. 2020-2021 forscht er als Senior Mercator Fellow.

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