Außen- und Sicherheitspolitik

Der Krieg in der Ukraine als Wendepunkt? Perspektiven für die deutsche Verteidigungspolitik

Ein Gespräch zwischen Ivan Krastev, Vorstandsvorsitzender des Centre for Liberal Strategies, und Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke

 

Ivan Krastev, Vorstandsvorsitzender des Centre for Liberal Strategies; Permanent Fellow, Institute for Human Sciences, diskutiert mit dem Vorsitzenden der Atlantik-Brücke, Sigmar Gabriel, über den Krieg in der Ukraine und die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Die Diskussion wurde moderiert von Anna Kuchenbecker, Senior Director, Strategic Partnerships, European Council on Foreign Relations.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einer enormen Veränderung der geopolitischen Lage geführt und stellt unter anderem Deutschland vor große außenpolitische Herausforderungen. In einer virtuellen Diskussion mit dem bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev, Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies und Permanent Fellow am Institute for Human Sciences, und Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke, wurden Fehler und eine mögliche zukünftige Ausrichtung deutscher Außenpolitik intensiv erörtert.

Krastev schilderte in seinem einführenden Statement die fatale Fehleinschätzung deutscher Außenpolitik, welche die Erfahrung des deutschen Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg auf post-sowjetische Staaten übertrug in der Annahme, dass diese eine ähnliche Entwicklung vollziehen würden. Es habe die Einstellung vorgeherrscht, man könne durch enge Handelsbeziehungen Kriege verhindern. Auf diesen Überzeugungen ruhend seien Politiken implementiert worden, die das Militär stark vernachlässigt und ökonomische Abhängigkeiten erhöht hätten. Dies sei jedoch durch die deutsche Gesellschaft gewünscht gewesen, so Krastev. Er beendete seine Ausführungen mit einem Appell, dass hier ein Umdenken innerhalb der deutschen Gesellschaft stattfinden müsse.

Sigmar Gabriel ergänzte hierzu, dass deutsche Politiker nach der Ost-Politik gegenüber der Sowjetunion und der Erfahrung der Wiedervereinigung geglaubt hätten, eine Patent-Lösung für den Umgang mit Russland gefunden zu haben. Dabei sei der zentrale Fehler gewesen, den neuen russischen Staat ebenso zu behandeln wie die Sowjetunion. Das Motto „Wandel durch Handel“ sei, so Gabriel weiter, eine Missinterpretation der Ostpolitik unter Willy Brandt, die sich eher als „Wandel durch Annäherung“ bezeichnen lasse: Mit den eigenen Zugeständnissen gingen auch Forderungen an die Sowjetunion einher, die durch das Unterzeichnen der KSZE-Schlussakte unter anderem zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet wurde. Erst im weiteren Verlauf der Geschichte wurde dieser Ansatz zur Maxime eines Wandels durch stärkere ökonomische Verflechtung umgewandelt.

Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde über die unterschiedliche Wahrnehmung des Konflikts in der westlichen Welt im Gegensatz zu anderen, ebenfalls demokratischen Staaten, die Gaspipeline Nord Stream 2 im Kontext der Verhandlungen des Minsker Abkommens und die Neuausrichtung deutscher Außenpolitik gesprochen. Zum Abschluss betonte Gabriel, Deutschland müsse sich von der durch die Globalisierung bestimmte Ära der Geoökonomie verabschieden und in dem neuen Zeitalter der Geopolitik seine Rolle auf der Weltbühne finden.

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