Außen- und Sicherheitspolitik

Deutschland bewegt sich: Die Zeitenwende und das transatlantische Verhältnis

Deutschland bewegt sich: Die Zeitenwende und das transatlantische Verhältnis Foto: Michael Heck

von Matthias Naß

Nie seit den leidenschaftlichen Debatten über die Ostverträge Anfang der siebziger Jahre habe ich eine Sitzung des Deutschen Bundestags so gebannt verfolgt wie die historische Zusammenkunft des Parlaments am 27. Februar 2022. Auch wenn vom Hundert-Milliarden-Sondervermögen, das der Bundeskanzler damals ankündigte, bisher nur ein Bruchteil bei der Bundeswehr angekommen ist; auch wenn Deutschland bei den Verteidigungsausgaben die versprochenen zwei Prozent nach wie vor bei weitem nicht erreicht – in der Sicherheitspolitik dieses Landes hat ein fundamentales Umdenken eingesetzt. Das kann sich Olaf Scholz zugute halten: Er hat für den weltpolitischen Umbruch, den Putins Aggression gegen die Ukraine ausgelöst hat, einen Begriff gefunden, den man heute auf Konferenzen in Tokio oder in Washington hören kann.

Die „Zeitenwende“ ist in den Sprachschatz der internationalen strategic community eingegangen wie damals die „Ostpolitik“.

Natürlich, der Zustand der Bundeswehr ist immer noch erbärmlich. Was aber vorbei ist, das ist die Gleichgültigkeit, mit der weite Teile der deutschen Politik dem Niedergang der Streitkräfte zugeschaut haben, bis der Inspekteur des Heeres am Morgen des Kriegsbeginns zornig schrieb: „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Einen Verteidigungsminister, einen Generalinspekteur und eine neue Chefin im Bundeswehr-Beschaffungsamt später kann man immerhin feststellen: Es kommt Bewegung in die Sache. Viel zu spät und immer noch zu langsam. Und doch.

Jahrzehntelang verzweifelten viele Verbündete an der Wurstigkeit, mit der die Deutschen hinter den von der Allianz gesteckten Zielen zurückblieben. Mit der sie die eigenen Verpflichtungen ignorierten. Es waren ja nicht nur die Amerikaner, die der Berliner Politik sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei vorwarfen. Größer noch war die Empörung der Osteuropäer über das, was sie als eine Mischung aus Mutlosigkeit und Opportunismus wahrnahmen.

Diese Vorwürfe sind heute kaum noch zu hören. Weil sich wirklich etwas ändert. In Europa hat nur Großbritannien eine vergleichbare Zahl moderner Waffen an die Ukraine geliefert. Wer hätte es vor einem Jahr für möglich gehalten, dass die ukrainische Armee achtzehn Leopard-2-Panzer aus deutschen Beständen erhält? Dazu Haubitzen, Schützenpanzer und Raketenabwehrsysteme.

Deutschland bewegt sich. Und mit ihm die gesamte Allianz. Nachdem am 24. Februar 2022 die russischen Truppen in der Ukraine einmarschiert waren, stellte die Nato an ihrer östlichen Grenze in kurzer Zeit acht neue battle groups mit jeweils 800 bis 1000 Soldaten auf, von Bulgarien bis zu den baltischen Staaten. Das Bündnis, das sich nach dem Ende des Kalten Krieges mehrere Jahrzehnte lang ganz auf Einsätze out-of-area konzentriert hatte, musste radikal umdenken und zu seiner ursprünglichen Aufgabe zurückkehren, der Verteidigung des Nato-Territoriums. Pläne mussten entwickelt werden, wie gefährdete Regionen des Bündnisses am wirkungsvollsten verteidigt werden könnten. Die Allianz, heißt es bei den strategischen Planern, steht vor ihrer „größten Veränderung seit vierzig Jahren“.

Wann und wie immer der Krieg in der Ukraine zu Ende geht: Die Bedrohung durch Russland wird bleiben.

Eine der Lehren, die das Bündnis schon heute aus dem Krieg zieht: Es braucht eine größere Standardisierung bei den Waffen. Und die Bestände in den einzelnen Armeen müssen aufgestockt werden. Russland hat in der Ukraine bereits 2000 Panzer verloren, aber weitere 2000 Panzer stehen bereit. Diesen gewaltigen Mengen an Waffen wird sich die Nato auch künftig gegenübersehen.

Eine ganz andere unerwartete Folge des Krieges: Die Ukraine wird künftig mit Abstand die größte Armee in Europa stellen. Nicht Deutschland, nicht Frankreich, nicht Großbritannien. Das Land wird aber auf lange Zeit nicht der Nato angehören. Die künftige Beziehung zwischen dem Bündnis und der Ukraine muss erst noch definiert werden.

Und dann sind da die globalen Perspektiven der Allianz. Russlands Aggression hat nicht nur das Sicherheitsgefühl der Europäer erschüttert. Auch in Japan, in Australien und natürlich in Taiwan fragen die Menschen, wie sicher der Frieden ist. In Asien geht die Bedrohung nicht von Russland aus, sondern von China. Je enger Moskau und Peking zusammenrücken, desto mehr suchen die asiatischen Demokratien die Nähe zueinander. Und sie intensivieren ihre Partnerschaft mit der Nato. So wie sie voriges Jahr in Madrid teilnahmen, so werden auch beim diesjährigen Nato-Gipfel am 11. und 12. Juli in Litauen die Regierungschefs Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands dabei sein. Die Mitglieder der Nato und ihre Partner in Fernost und im Pazifik verstehen Europa und Asien immer mehr als einen Raum gemeinsamer Sicherheit.

Das also hat Putin geschafft. Er hat Deutschland aus seiner sicherheitspolitischen Lethargie gerissen. Er hat die Nato geeint und gestärkt. Er hat die Demokratien rund um die Erde an ihre gemeinsamen Interessen erinnert. Und er hat sein eigenes Land zum Juniorpartner einer immer mächtiger werdenden Volksrepublik China degradiert. Was für eine Bilanz. Die Zeitenwende könnte zum Epochenbruch werden.

Matthias Naß ist Internationaler Korrespondent der ZEIT, deren Stellvertretender Chefredakteur er lange Jahre war. Im September 2023 erscheint bei C.H.Beck sein neues Buch: „Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft im Indopazifik“.

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