Gesellschaft

„Engagement ist eine tragende Säule unserer Demokratie“

„Engagement ist eine tragende Säule unserer Demokratie“ Foto: Stiftung für Zukunftsfragen

Im Interview spricht Professor Dr. Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen – eine Initiative der BAT, über die Herausforderungen für unsere Gesellschaft in Zeiten von geopolitischen Spannungen, Klimakrise, Digitalisierung, Migration und demografischem Wandel.

In den USA verspricht Präsident Trump, das Land wieder großartig zu machen. In Deutschland feiert die AfD mit einem Zurück zur traditionellen Familie und zu einer homogeneren Gesellschaft große Erfolge. Warum ist ein scheinbar besseres Gestern gerade so hoch im Kurs?

Unsere Analysen zeigen, dass die Sehnsucht nach einem „besseren Gestern“ insbesondere Ausdruck einer gestiegenen Verunsicherung ist, die mit Veränderungen im sozialen Miteinander, neuen Technologien sowie globalen und individuellen Herausforderungen einhergeht. Die Rückbesinnung auf traditionelle Werte und Strukturen bietet für viele das Gefühl von Orientierung und Halt in einer zunehmend unübersichtlichen Welt.

Diese Dynamik lässt sich nicht allein durch objektive Daten erklären – sie ist auch eine Reaktion auf die gefühlte Beschleunigung des Lebens. Digitalisierung, Individualisierung und permanente Erreichbarkeit verändern nicht nur unser Kommunikationsverhalten, sondern auch unsere Vorstellung von Nähe, Verlässlichkeit und Zugehörigkeit. Der Wunsch nach Überschaubarkeit, nach klaren Strukturen und vertrauten Ritualen ist oft ein Versuch, dem Eindruck von Kontrollverlust entgegenzuwirken.

Hinzu kommt, dass zwar die Zahl der registrierten Straftaten seit den 1990er-Jahren rückläufig ist, aber das subjektive Sicherheitsgefühl vieler Bürger nicht im gleichen Maße zugenommen hat. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die mediale Berichterstattung, die oftmals auf Einzelfälle fokussiert ist und dadurch ein verzerrtes Bild vom gesellschaftlichen Alltag vermittelt. Emotionen wirken hier oft stärker als Statistiken – insbesondere dann, wenn Unsicherheit ohnehin das Grundgefühl ist.

Zudem leben wir in einer Zeit, in der traditionelle Sicherheiten – wie etwa ein stabiler Lebenslauf, klare Familienmodelle oder feste politische Überzeugungen – zunehmend an Verbindlichkeit verlieren. Orientierung verschiebt sich von Institutionen hin zu persönlichen Netzwerken, digitalen Communities oder individuellen Wertesystemen. Doch gerade in Momenten gesellschaftlicher Transformation gewinnen Gemeinschaft, Zusammenhalt und verlässliche Beziehungen wieder an Bedeutung.

Die Herausforderung besteht darin, diese Rückbesinnung nicht als Rückschritt, sondern als Chance zu verstehen: als Möglichkeit, bewährte Werte wie Verantwortung, Verlässlichkeit und Gemeinsinn neu zu interpretieren und in eine moderne, offene Gesellschaft zu übersetzen. Denn nur wenn sich Wandel mit Vertrauen verbindet, kann aus Unsicherheit Zuversicht entstehen – und aus der Sehnsucht nach dem Gestern eine Gestaltungskraft für das Morgen.

In Ihrem neuesten Buch „So gelingt Deutschlands Zukunft“, stellen Sie fest, dass eine Großzahl der Bürger*innen bereit wäre, sich stärker zivilgesellschaftlich zu engagieren. Was hält sie zurück?

Die Bereitschaft vieler Bürger, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, ist grundsätzlich hoch – das zeigen nicht nur Umfragen, sondern auch die Vielzahl an Initiativen, Projekten und Ehrenämtern, die in den letzten Jahren entstanden sind. Doch zwischen guter Absicht und tatsächlichem Engagement klafft oft eine Lücke. Unsicherheiten im Umgang miteinander erschweren vielerorts den Einstieg. Hinzu kommen tiefgreifende Veränderungen im Wertegefüge der Gesellschaft: Wo früher Pflichterfüllung und Gemeinschaft im Vordergrund standen, rücken heute Individualität, Selbstverwirklichung und Flexibilität stärker in den Fokus.

Zugleich wächst in einer zunehmend komplexen und unübersichtlichen Welt das Bedürfnis nach Stabilität und Orientierung. Der Alltag vieler Bürger ist geprägt von hoher Taktung, ständiger Erreichbarkeit und dem Gefühl, ohnehin schon zu wenig Zeit für Familie, Freunde oder sich selbst zu haben. Engagement gerät so oft ins Hintertreffen – nicht aus Desinteresse, sondern aus Überforderung.

Damit sich mehr Bürger aktiv einbringen, braucht es deshalb vor allem eines: Vertrauen – in die Institutionen, in die Mitmenschen und in die Wirksamkeit des eigenen Tuns. Teilhabe darf kein Lippenbekenntnis bleiben, sondern muss konkret und erlebbar sein: durch einfache Zugänge, echte Mitgestaltungsmöglichkeiten und Anerkennung auf Augenhöhe. Und nicht zuletzt braucht es eine gesellschaftliche Kultur, die Zusammenhalt nicht nur beschwört, sondern fördert – durch Begegnung, Dialog und das Bewusstsein, dass Engagement kein Luxus ist, sondern eine tragende Säule unserer Demokratie.

Die Zivilgesellschaft scheint oftmals auf dem Rückzug zu sein – die Volksparteien und Gewerkschaften verlieren Mitglieder, die Sportvereine ebenso, und große Protestbewegungen wie Fridays for Future sind kaum mehr sichtbar. Was ist ein Positivbeispiel für eine Bewegung, die es geschafft hat, in den letzten Jahren vermehrt Menschen zum Engagement zu bewegen?

Ein aktuelles Beispiel für eine lebendige und handlungsfähige Zivilgesellschaft sind die Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus, die seit Anfang 2024 in ganz Deutschland stattgefunden haben. Hunderttausende Bürger haben sich – unabhängig von Parteien oder klassischen Institutionen – selbstorganisiert für Demokratie, Vielfalt und Zusammenhalt eingesetzt.

Besonders bemerkenswert: Diese Proteste vereinten Menschen unterschiedlichster Herkunft, Altersgruppen und Lebensrealitäten – von der Großstadt bis in ländliche Räume. Sie waren Ausdruck eines kollektiven „Jetzt erst recht“ – getragen von dem Wunsch, nicht länger zuzusehen, sondern aktiv Haltung zu zeigen.

Was diese Bewegung so kraftvoll macht, ist ihre Dezentralität und Spontaneität. Sie zeigt, dass zivilgesellschaftliches Engagement heute oft jenseits etablierter Strukturen geschieht – über soziale Netzwerke, lokale Bündnisse oder persönliche Netzwerke. Und sie macht deutlich: Wer sich gesehen, gebraucht und wirksam fühlt, engagiert sich eher und nachhaltiger.

Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung suchen viele nach Möglichkeiten, Teil einer sinnstiftenden Bewegung zu sein. Die Proteste gegen Rechts haben nicht nur Sichtbarkeit erzeugt – sie haben vielen auch ein Gefühl von Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit gegeben.

Für eine resiliente Demokratie bedeutet das: Es braucht Räume, Anlässe und Strukturen, die solche Beteiligung ermöglichen. Die Bereitschaft ist da – man muss ihr nur Resonanz bieten.

Auf der Veranstaltung „Vertrauen verloren? Erwartungen an die Politik“ der Regionalgruppe Hamburg (15. Juli 2025) diskutierten Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke, Jürgen Großmann, Gesellschafter der Georgsmarienhütte Holding GmbH und Professor Dr. Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen – eine Initiative von BAT Holding GmbH, über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.

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