Wirtschaft und Finanzen

„Es wird immer Finanzkrisen geben“

Börsen-Zeitung-Interview mit Prof. Dr. Andreas Dombret
„Es wird immer Finanzkrisen geben“ Prof. Dr. Andreas R. Dombret

Im Interview mit der Börsen-Zeitung spricht Prof. Dr. Andreas Dombret, Atlantik-Brücke Vorstandsmitglied und Global Senior Advisor bei Oliver Wyman, New York; Mitglied a.D. des Vorstands der Deutschen Bundesbank, über Risiken für das Finanzsystem, die rasche Zinswende und den digitalen Euro.

Das Interview erschien am 24. Januar 2023 in der Börsen-Zeitung anlässlich der 11. Konferenz zur Zukunft des Finanzsektors am Institute for Law and Finance (ILF) der Goethe-Universität.

Herr Dombret, die von Ihnen mitorganisierte ILF-Konferenz stellt heute die Frage, woher die nächste Finanzkrise kommen könnte. Was ist Ihre Antwort auf diese Frage? Was sind aus Ihrer Sicht die Top-3-Risiken für die Finanzstabilität?

Lassen Sie mich bitte eines vorausschicken: Es muß uns allen bewußt sein, daß es auch künftig immer wieder Finanzkrisen geben wird. Die Frage ist nur, wie groß die Auswirkungen sein werden und wie gut wir dann vorbereitet sind. Für die diesjährige Konferenz haben wir nicht drei, sondern sogar vier Themenfelder identifiziert, bei denen große Risiken für das Finanzsystem lauern können und die wir uns deshalb ganz genau anschauen wollen: makroökonomische Entwicklungen, den Schattenbankensektor, Cybersicherheit einschließlich Kryptos und den regulierten Finanzbereich, also Banken, Versicherungen und mehr.

Was sorgt sie mit Blick auf die makroökonomische Entwicklung denn am meisten – die hohe Inflation, die Gefahr einer Rezession, der Ukraine-Krieg?

Die Krisen dieser Tage – hierbei bitte nicht die Klimakrise vergessen – überlagern und verstärken sich gegenseitig, es sind regelrechte Polykrisen. Mitunter kommen dann noch völlig neue, unerwartete Probleme hinzu wie etwa Ende letzten Jahres in Großbritannien mit den Turbulenzen bei den Pensionskassen infolge der Budgetpläne der Regierung. Es gibt also nicht nur “known unknowns”, sondern leider auch “unknown unknowns” …

Wo lauern nun die nächsten Gefahrenherde? Vielleicht in China, vielleicht in Japan, vielleicht bei den Lieferketten. Darauf versucht die heutige Konferenz eine Antwort zu finden. Eine besondere Rolle kommt dabei in diesen Tagen der Geopolitik zu. Hier können sich schnell große Risiken und Verwundbarkeiten aufbauen. Hiervor hatte ich bereits 2018 in meiner Abschiedsrede in der Bundesbank gewarnt.

Bei den Schattenbanken wird seit Jahren gewarnt, aber es tut sich relativ wenig, oder?

Zu Beginn meiner Amtszeit bei der Bundesbank stand das Thema noch recht weit oben auf der Agenda. Nach der Weltfinanzkrise richtete sich der Fokus dann aber doch recht einseitig auf die Regulierung des traditionellen Bankensektors, und die Schattenbanken gerieten dabei ein wenig aus dem Blick. Dies ändert sich nun wieder. Inzwischen wird zum Beispiel ein enormer Teil des Kreditgeschäfts außerhalb des Bankensektors verliehen. Das ist nicht per se verwerflich, aber es muß hier sehr viel genauer hingeschaut werden.

Genau wie beim Thema Cybersicherheit?

Wenn wir ehrlich sind ist dies ein Thema, von dem Zentralbanker und Aufseher immer noch zu wenig verstehen und noch viel lernen müssen – und das möglichst schnell. Mir macht Sorge, dass es immer schwieriger wird, sich als Bank und Versicherung im Markt gegen Cybergefahren zu versichern.

Und Sie sorgen sich auch um den traditionellen Finanzsektor, um die Banken? Die Bankenbranche selbst wird doch nicht müde zu betonen, wie solide sie dastehe.

Ich denke tatsächlich, dass die Bankenrisiken aktuell verhältnismäßig weniger bedrohlich sind, weil die Bilanzen der Institute in den letzten Jahren so sehr gestärkt werden konnten. Ihre Eigenkapitalausstattung ist heute deutlich höher und die Institute verfügen über erheblich mehr und bessere Liquidität. Das ist erstmal beruhigend. Aber es ist kein Grund, selbstgefällig zu werden. Nehmen Sie die rasche Zinswende. Nicht zuletzt im Euroraum sind die Leitzinsen sehr viel schneller gestiegen, als dies in nahezu allen Szenarien der Banken angenommen war. Und auch die Stresstests der Zentralbanken hatten ein solches Zinsszenario ebenfalls nicht simuliert.

Wo Sie die Leitzinsen ansprechen: Wie sehr ist aktuell die Geldpolitik ein Risiko für die Finanzstabilität? Mancher Kritiker warnt wegen der aggressiven Zinswende.

Zunächst einmal: Es beschweren sich jetzt mitunter genau diejenigen, die vorher die Zinswende vehement eingefordert haben. Aus meiner Sicht ist es angesichts der Inflation absolut angemessen, wie sich die Zentralbanken einschließlich EZB und Fed aktuell verhalten. Sicher, sie haben zu spät auf die steigende Inflation reagiert. Aber dies hat die allermeisten überrascht, und nachkarten bringt nichts. Natürlich ist die Zinsveränderung jetzt in relativ kurzer Zeit recht ausgeprägt, aber die Zinswende ist von einem extrem niedrigen Niveau gestartet und die Zentralbanken kommunizieren äußerst transparent. Dies hilft, negative Folgen einzudämmen.

Derzeit gibt es aber eine große Diskrepanz zwischen den Ankündigungen von Fed und EZB in Sachen weitere deutliche Zinserhöhungen und dem, was Investoren einpreisen. Teils werden für die zweite Jahreshälfte 2023 schon Zinssenkungen erwartet.

Die Notenbanker sorgt insbesondere die hohe Kerninflation, die Energie und Lebensmittel ausklammert, und das völlig zurecht. Allgemein kommt mir die Stimmung an den Märkten tatsächlich etwas zu optimistisch vor.

Also eine neuerliche irrationale Übertreibung samt potenzieller Gefahr heftiger Korrekturen?

Ich habe den Eindruck, dass die Stimmung a den Märkten besser ist als die konkreten Indikatoren für die wirtschaftliche Lage sowie der Ausblick. Wenn sich die wirtschaftlichen Faktoren etwas verbessern, springt die Stimmung gleich um ein Vielfaches nach oben. Da herrscht sicher auch das Prinzip Hoffnung vor. Somit erscheinen mir Warnungen, Vorsicht walten zu lassen, durchaus angebracht.

Aber einige der jüngsten Konjunkturdaten sind tatsächlicher positiver ausgefallen und haben die Hoffnung geschürt, dass zumindest ein wirtschaftlicher Einbruch vermieden werden kann.

Ja, die jüngsten Daten deuten darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit für negative Überraschungen abgenommen hat, dass die Wahrscheinlichkeit für positive Überraschung etwas gestiegen ist und dass die Wahrscheinlichkeit einer schweren Rezession geringer geworden ist. Das kann sich aber auch wieder ändern. Die Unsicherheit ist aktuell extrem groß. Vorhersagen für mehr als drei oder sechs Monaten erscheinen mir kaum möglich. Ich halte es deshalb auch für verfrüht, bereits jetzt jegliche Rezessionsgefahr ad acta zu legen.

Was erwarten Sie denn konkret von der Europäischen Zentralbank in der nächsten Zeit?

Ich meine, dass wir bei den nächsten beiden geldpolitischen Sitzungen im Februar und März mit Zinserhöhungen von jeweils 50 Basispunkten rechnen müssen. Vor der Februar-Sitzung wird es so gut wie keine neuen Daten mehr geben; allerdings wird die EZB vor der März-Sitzung ihre Projektion vorlegen, so dass eine mögliche Zinserhöhung im März sehr viel schwerer einzuschätzen ist als die im Februar. Nach den beiden geldpolitischen Sitzungen ist dann möglicherweise ein Zinsniveau erreicht, das eine gewisse Zinspause rechtfertigt und von dem aus man dann weiterschauen kann. Bitte bedenken Sie bei all dem, dass der neutrale Zins heute höher liegt als noch im Herbst gedacht.

Also jener Zins, der die Wirtschaft im Gleichgewicht hält. Wo sehen Sie den denn?

Es wurde lange geschätzt, dass der neutrale Zins irgendwo bei 250 Basispunkten liegt. Wir müssen bei der steigenden Kerninflation feststellen, dass der neutrale Zins vermutlich deutlich höher als bei 250 Basispunkten eintritt. Darauf musste die EZB reagieren und hat dies in ihrer Dezember-Sitzung auch getan.

Infolge der raschen Zinswende drohen den Euro-Notenbanken selbst enorme Bilanzverluste. Wie problematisch ist das – auch für die Unabhängigkeit?

Die Situation ist von Notenbank zu Notenbank unterschiedlich. Die Bundesbank zum Beispiel hat während meiner Amtszeit hohe Risikovorsorge betrieben, was ihr heute zugute kommt. Die Unabhängigkeit von Notenbanken ist und bleibt ein hohes Gut. Aber nicht nur Notenbanken sind auf der Aktivseite von der raschen Zinswende betroffen, sondern auch viele Banken und Sparkassen. Was sich langfristig positiv auswirkt, das belastet jetzt erst einmal kurzfristig.

Einen zeitweise regelrechten Absturz haben unlängst Kryptoassets erlebt. Kann sich das perspektivisch noch zu einem Risiko für die Finanzstabilität entwickeln?

Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir Chancen kurzfristig über- und langfristig unterschätzen. Das ist nicht zuletzt auch bei den Kryptowerten passiert. Es wird in Zukunft nach meiner festen Überzeugung eine sehr viel digitalere Finanzwelt geben, und die Blockchain wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Aber mitunter gibt es einige spektakuläre Übertreibungen wie zum Beispiel bei FTX.

Der „Krypto-Winter“ hat gezeigt: Es muss eine wirksame Regulierung für Kryptoassets geben, und zwar am besten weltweit. Und es braucht als Alternative das digitale Zentralbankgeld. Diese Alternative finde ich wichtig, um vor dem Hintergrund eines geänderten Nachfrageverhalten die Souveränität der eigenen Währung, in unserem Fall des Euros, abzusichern.

In den USA hält sich die Begeisterung für einen digitalen Dollar aber in Grenzen.

Wenn rund 60 % der weltweiten Devisenreserven in Dollar gehalten werden, können Regierung und Notenbank in den USA die weltweite Entwicklung vielleicht etwas länger beobachten als andere. Wenn China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, aber nur 1% oder 2 % der Währungsreserven der Welt auf Renminbi lauten, möchte es die erste große Volkswirtschaft sein, die mit digitalem Zentralbankgeld herauskommt. Damit lässt sich die Attraktivität ihrer eignen Währung international erhöhen. Und der Euro, auf den rund 20 % der Devisenreserven lauten, ist dann möglicherweise als nächstes an der Reihe.

Beim digitalen Euro wird aktuell heftig gerungen und teils gestritten über die richtige Balance zwischen Datenschutz sowie Privatsphäre und Vermeidung von Geldwäsche sowie Terrorismusfinanzierung. Aber der digitale Euro kommt in jedem Fall?

Ich gehöre zu denjenigen, die davon überzeugt sind, dass der Staat mit ihren Daten verantwortungsvoll umgeht. So oder so: Es braucht aus meiner Sicht den digitalen Euro. Die Nachfrage nach Bargeld wird immer weiter abnehmen. Das ist unabwendbar. Und in diesem Szenario braucht es über kurz oder lang diese staatliche Alternative.

Zur Stärkung der EU-Kapitalmarktunion hat Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zum Jahreswechsel in der Börsen-Zeitung eine Reform der EU-Verbriefungsregeln gefordert. Was halten Sie davon?

Dies ist schon lange auch meine Meinung. Wir müssen die Kapitalmarktunion stärken, und die Verbriefungen sind dabei eine „low hanging fruit“, also eine leicht und schnell umzusetzende Maßnahme. Das Thema ist in der europäischen Diskussion auch bereits relativ weit fortgeschritten und muss jetzt einfach einmal in die Umsetzung kommen. Deswegen setzt der Finanzminister aus meiner Sicht genau am richtigen Punkt an.

Aber nach der Weltfinanzkrise galten Verbriefungen als übel.

Es gibt zwei Arten von Verbriefungen. Sie können diese strukturierten, großen, komplexen Verbriefungen, die eine der Ursachen für die Weltfinanzkrise waren, gar nicht so ohne Weiteres harmonisieren. Außerdem machen sie auch nur einen Teil des Gesamtmarktes aus. Es geht mir vielmehr um die sehr wenig strukturierten, transparenten, unkomplizierten Verbriefungen. Sie ermöglichen es den Banken, relativ einfach Aktiva von ihrer Bilanz herunter zu nehmen, um sich auf diese Weise für neues Kreditgeschäft zu entlasten – mit volkswirtschaftlich positiven Auswirkungen. Eine europaweite Reform von Verbriefungen führt neben Verbesserungen bei der Refinanzierung dazu, dass grenzüberschreitende Assetklassen entstehen, die für Anleger interessant sind. Eine europäische Reform des Verbriefungsmarktes macht für mich also in jeder Hinsicht Sinn. Und ich meine: Je früher, je besser.

Das Interview führte Mark Schrörs.

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