Wirtschaft und Finanzen

„Gasimporte aus Russland lassen sich kurzfristig nicht ersetzen“

Kurzinterview mit Dr. Thilo Schaefer, IW
„Gasimporte aus Russland lassen sich kurzfristig nicht ersetzen“ Dr. Thilo Schaefer Foto: IW Köln e.V.

Der Ökonom und Energie-Experte Thilo Schaefer vom Institut der deutschen Wirtschaft hat im Auftrag der Atlantik-Brücke Deutschlands Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen in einer Studie untersucht. Im Kurzinterview spricht er über das Szenario eines Endes dieser Lieferungen, die Debatte unter Ökonomen über die wirtschaftlichen Folgen eines solchen Schrittes und alternative Energiequellen.

Herr Schaefer, Deutschland bezieht mehr als die Hälfte seines Erdgases aus Russland. Ist aus Ihrer Sicht eine komplette Abkehr von diesen Lieferungen in kurzer Zeit möglich?

Die Gasimporte aus Russland lassen sich kurzfristig nicht ohne Weiteres durch andere Energieträger ersetzen. Laut BDEW liegt das kurzfristige Potenzial bei lediglich einem Drittel der Importe. Insbesondere bei der Stromerzeugung können andere Kraftwerke einspringen. Haushalte sowie Gewerbe, Handel und Dienstleistungen können ihren Gasverbrauch reduzieren. In der Industrie können nur wenige Verbraucher unmittelbar auf andere Energieträger ausweichen. Die Erzeugung von Prozesswärme ist in hohem Maße auf Gas angewiesen.

Neben Russland liefern auch Norwegen und die Niederlande Gas über Pipelines nach Deutschland. Diese Lieferungen lassen sich kurzfristig allerdings kaum erhöhen. Alternativ kommen Flüssiggaslieferungen in Frage. Da Deutschland aber noch über keine eigenen LNG-Terminals verfügt, wäre nur eine Nutzung freier Terminalkapazitäten in den Niederlanden und Belgien möglich, die zumindest einen Teil der Importe ersetzen könnten. Da ein Gasembargo aber die gesamte EU beträfe, müssten neben Deutschland auch die Nachbarstaaten verstärkt auf LNG-Importe setzen und bestehende Kapazitäten daher geteilt werden.

Ob Deutschland auf russisches Gas verzichten kann, wird unter Ökonomen zurzeit hitzig diskutiert. Während manche ein Embargo trotz erheblicher wirtschaftlicher Einschnitte für verkraftbar halten, warnen andere vor schwerwiegenden und unkalkulierbaren Konsequenzen für die deutsche Volkswirtschaft. Wie beurteilen Sie diese Auseinandersetzung?

Gleichgewichtsmodelle, mit denen Ökonomen die Auswirkungen wirtschaftlicher Veränderungen nachvollziehen, leisten einen wichtigen Beitrag zur Folgenabschätzung, unterliegen aber auch einigen Beschränkungen. Modelle, die Nachfrageveränderungen aufgrund von Preisanstiegen abbilden, sind nicht geeignet, den anhaltenden Ausfall eines Produktionsfaktors und dessen Auswirkungen in der Lieferkette adäquat darzustellen. Die Modellergebnisse stellen demnach bestenfalls das Minimum der zu erwartenden Konsequenzen dar. Eine Abschätzung tatsächlicher Produktionsausfälle und deren Wirksamkeit in den Lieferketten ist dagegen schwierig, zumal für ein solches, nie dagewesenes Szenario sowohl statistische Daten als auch passende Modelle fehlen.

In der Ökonomendebatte kommen die Limitierungen der verschiedenen Ansätze zu kurz. Vielmehr werden aus Modellergebnissen unmittelbar politische Forderungen abgeleitet, ohne die dabei zugrunde liegenden Werturteile klar zu benennen. Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern lässt diese Grundregeln eines wissenschaftlichen Diskurses in ihrer Argumentation derzeit vollkommen außer Acht. Dies wird der Komplexität und Relevanz des Themas nicht gerecht und kann der Wahrnehmung wissenschaftlicher Arbeit im politischen und gesellschaftlichen Diskurs langfristig sogar schaden.

Mit welchen wirtschaftlichen Folgen müssten wir nach Ihren Erkenntnissen in Deutschland rechnen, wenn es tatsächlich zu einem Erdgas-Embargo kommen würde? Welche Alternativen gibt es zu den Lieferungen aus Russland?

Die Folgen eines Erdgas-Embargos hätte in erster Linie die Industrie zu tragen, denn die Wärmeversorgung für private Haushalte und soziale Einrichtungen ist geschützt und wird entsprechend priorisiert. Produktionsstandorten, die zur Erzeugung von Prozesswärme auf Gas angewiesen sind oder Gas stofflich verwenden, droht eine anhaltende Unterversorgung, in deren Folge es sogar zu Produktionsstopps kommen kann. Entsprechend würden hier auch Grundstoffe zur Weiterverarbeitung in anderen Branchen fehlen, so dass ganze Lieferketten betroffen wären. Hier gibt es zwar zum Teil Substitutionspotenzial, aber es drohen Knappheiten und weitere Preisanstiege auf dem Weltmarkt. Ändern sich dadurch Lieferketten, kann dies für hiesige Produktionsstandorte das dauerhafte Aus bedeuten. Entsprechend würden die Arbeitsplätze dort wegfallen.

Erste kurzfristige Alternativen zu den leitungsgebundenen Gasimporten werden frühestens im kommenden Winter in Form schwimmender Flüssiggasterminals zur Verfügung stehen. Eigene, stationäre Terminals, die mengenmäßig russische Gasimporte ersetzen könnten, müssen zunächst gebaut werden und werden erst in einigen Jahren zur Verfügung stehen. Angesichts der limitierten Flexibilitäten auf der Gasbezugsseite wird deshalb im Bereich der Strom- und Wärmeerzeugung vorübergehend wieder mehr Kohle zum Einsatz kommen. Mittelfristig kommt es noch stärker als ohnehin schon geplant auf den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien an, flankiert von Speichermöglichkeiten und der Produktion und dem Import von klimafreundlichem Wasserstoff und seiner Derivate an.

Dr. Thilo Schaefer ist Leiter des Kompetenzfelds Umwelt, Energie, Infrastruktur des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Hier finden Sie seine Profil-Seite.

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