Interviewreihe Zukunft der NATO

Ischinger: „Diplomatie bleibt heiße Luft ohne militärische Fähigkeit“

Ischinger: „Diplomatie bleibt heiße Luft ohne militärische Fähigkeit“ Botschafter Wolfgang Ischinger Foto: Münchner Sicherheitskonferenz

Interview: Robin Fehrenbach

Teil III unserer Serie: Botschafter Wolfgang Ischinger betont den hohen Wert der Diplomatie für den Westen. Schlagkräftiger werde sie erst mit einer glaubwürdigen Verteidigung. Im Gespräch mit der Atlantik-Brücke erklärt der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz zudem, wie das 2-Prozent-Ziel der NATO durch qualitative Merkmale und eine aufeinander abgestimmte Planung der europäischen Bündnispartner zu ergänzen sei.

Herr Botschafter Ischinger, in den vergangenen Monaten wurde viel darüber spekuliert, an welche Bedingungen das Sicherheitsversprechen der NATO geknüpft ist. In Ihre Zeit als Deutschlands Botschafter in den USA fielen die Terroranschläge des 11. September 2001. Wie schnell war Ihnen bewusst, dass dieser Angriff den ersten Bündnisfall in der Geschichte der NATO auslösen würde?

Zunächst muss man feststellen, dass die USA diesen Angriff über eine längere Zeit hinweg als einen Angriff auf die Vereinigten Staaten und nicht auf das Bündnis betrachteten. Und dass die Initiative, den Artikel 5 hier ins Spiel zu bringen, auch gar nicht von den USA selbst ausging, sondern von den europäischen Bündnispartnern, die einen Ausdruck von Solidarität zum Tragen bringen wollten. Als es dann in dieser Frage zu einer Sondersitzung des NATO-Rates im Herbst 2001 kam, war es bezeichnend, dass der amerikanische Verteidigungsminister noch nicht einmal selbst hinfuhr. Das war ihm nicht wichtig genug. Er hat nur seinen Stellvertreter geschickt.

Mit anderen Worten: Mir und meinen Mitarbeitern in der damaligen deutschen Botschaft in Washington war schon an diesem Tag klar, dass dies aus Sicht der USA die Welt dramatisch verändern würde. Dass die USA von ihren Partnern umfangreiche, wenn nicht bedingungslose Solidarität erwarten würden. Dies ist dann ja auch in vielfältiger Weise geschehen. Aber dass es zum Artikel 5 und in der Folge zum gemeinsamen Einsatz in Afghanistan kommen würde, war mir ehrlich gesagt auch erst nach einigen Wochen, ich würde sagen gegen Ende September, so richtig klar.

Kommen wir zur Gegenwart: Kreist die sicherheitspolitische Debatte um das 2-Prozent-Ziel der NATO-Mitglieder zu sehr um das reine Aufstocken der Verteidigungsetats und vernachlässigt sie gleichzeitig das gründliche Erklären der Herausforderungen, vor denen die NATO steht?

Die Burdensharing-Debatte tobt im Prinzip seit vier Jahrzehnten in der NATO. In den 1970er Jahren sprachen wir von drei Prozent. Das war noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Die drei Prozent wurden damals von den meisten Mitgliedern auch nicht erreicht. Jetzt sprechen wir von zwei Prozent. Die Forderung, dass die Europäer im Schnitt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – aus eigenem Interesse wesentlich mehr tun sollten und müssen und dies nicht bloß, weil Donald Trump es fordert, hat sich als Einsicht erfreulicherweise jetzt durchgesetzt. Insoweit ist die 2-Prozent-Forderung nicht falsch, sondern zu ergänzen. Deshalb ist dies eine sehr gute Frage. Wenn man mehr Geld ausgibt, kann man es völlig sinnlos ausgeben. Man kann es aber auch effizient, effektiv und sinnvoll ausgeben.

Wenn man mehr Geld ausgibt, kann man es völlig sinnlos ausgeben. Man kann es aber auch effizient, effektiv und sinnvoll ausgeben.Botschafter Wolfgang Ischinger

Können Sie ein Beispiel geben?

Hier taucht die Frage nach völlig anderen und zusätzlichen, nicht das 2-Prozent-Ziel ersetzenden Kriterien auf. Ich nenne Ihnen einmal einen großen Bereich, nämlich die Frage, wie sich die europäischen NATO-Partner – jedenfalls die, die sich in der EU versammeln – in der Europäischen Union so organisieren können, dass sie den Verteidigungseuro eben viel effizienter ausgeben. Beispielsweise, dass man Waffensysteme gemeinsam einkauft und auch gemeinsam entwickelt. Europa unterhält 178 große Waffensysteme – ein unerklärbarer Luxus. Die USA dagegen geben weit mehr als das Doppelte für Militär aus als wir Europäer kollektiv und haben nur 30 große Waffensysteme. Die USA haben längst die Synergieeffekte geschöpft und genutzt, die sich daraus ergeben, dass man nicht sechs oder sieben verschiedene Hersteller von Kampfflugzeugen unterhält, sondern nur zwei. In anderen Bereichen der militärischen Rüstungsproduktion sieht es ähnlich aus. Hier geht es um das Pooling and Sharing, das wir hoffentlich angesichts der wachsenden Verteidigungshalte jetzt sinnvoll und systematisch ins Werk setzen können.

Was braucht es dafür?

Einen gemeinsamen Planungsprozess der Europäer. Es müssen nicht alle das Gleiche machen, und es müssen nicht alle alles können. Es kann sich beispielsweise einer auf die Tätigkeit der Mountain Troops konzentrieren, und der andere bewerkstelligt vielleicht die Patrouillen in der Ostsee. Das muss planerisch umgesetzt werden. Das ist die große Hausaufgabe, die sich für die Europäer stellt, weil sie im Bereich der Verteidigungs- und Rüstungspolitik den Gedanken der europäischen Integration überhaupt noch nicht angefangen haben umzusetzen. Es gibt jetzt erfreuliche erste Ansätze. Diese müssen verfolgt und weitergeführt werden. Wir marschieren in die richtige Richtung. Aber Sie haben vollkommen Recht: Das 2-Prozent-Ziel alleine ist kein hinreichendes Ziel, sondern ein notwendiges Ziel. Es muss ergänzt werden durch qualitative Merkmale und eine systematisch aufeinander abgestimmte, gemeinsame Planung.

Die Europäer haben im Bereich der Verteidigungs- und Rüstungspolitik den Gedanken der europäischen Integration überhaupt noch nicht angefangen umzusetzen.Botschafter Wolfgang Ischinger

Halten Sie die zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes als Beitrag für Verteidigungsausgaben für eine angemessene Größenordnung?

Wir haben das 2-Prozent-Ziel als eine anzustrebende Richtgröße beim NATO-Gipfel in Wales gemeinsam beschlossen. Wenn man den Wortlaut liest, weiß man, dass dies nicht eine Verpflichtung ist, den präzisen 2-Prozent-Satz zwingend zu erreichen. Es besteht aber die Pflicht, sich darum zu bemühen, in die Gegend des 2-Prozent-Ziels zu kommen. Realistischerweise wird man erwarten können, dass eine ganze Reihe von NATO-Mitgliedstaaten das 2-Prozent-Ziel nicht präzise erreichen werden. Aber es ist genauso realistisch zu erwarten, dass fast alle in drei bis fünf Jahren erheblich mehr für Verteidigung ausgeben werden, sich also in Richtung der zwei Prozent bewegen werden. Da kommt es auf die zweite Nachkommastelle nicht so sehr an. Denn es ergeben sich dann zwei- oder dreistellige Milliardenbeträge. Diese würden für die Glaubwürdigkeit und Fähigkeit Europas, sich selbst zu schützen, eine große Verbesserung darstellen.

Zur besseren Beurteilung der fairen transatlantischen Lastenteilung innerhalb der NATO hat die Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der Leyen, einen Aktivitätsindex vorgeschlagen. Dieser soll die jeweilige Beteiligung der Mitglieder an NATO-Einsätzen und -Maßnahmen transparent darlegen. Was halten Sie von diesem Vorstoß?

Das ist sicher eine intelligente Methode, um neben dem 2-Prozent Ziel, das ja nur ein quantitativer Maßstab der Finanzmittel ist, ein Kriterium für die tatsächlichen Aktivitäten zu haben, die die einzelnen Mitgliedstaaten den gemeinsamen Zielen gegenüber erbringen oder eben nicht erbringen. Ich halte das für eine gute Idee. Sie praktisch umzusetzen und zu einem allgemein gültigen Maßstab zu entwickeln, ist natürlich nicht einfach. Es wird für die Staaten wie Deutschland relativ attraktiv sein, die zwar vergleichsweise wenig für Verteidigung ausgeben, sich aber an vielen Missionen mit zum Teil kleineren Beiträgen beteiligen. Wohingegen es andere Staaten gibt, die für ihre Verhältnisse viel für Verteidigung ausgeben, sich aber unterdurchschnittlich an EU- oder NATO-Missionen beteiligen. Das von der Leyensche Kriterium finde ich klug und interessant. Man sollte es neben dem 2-Prozent-Ziel heranziehen, um sinnvolle Vergleiche anstellen zu können.

Militärische Beiträge in der NATO brauchen eine zivile Ergänzung in der Entwicklungspolitik und vor allem auch in der Außenpolitik der westlichen Bündnispartner. Wie hoch ist aus Ihrer Sicht der Wert der Diplomatie im Zusammenspiel mit den militärischen Komponenten?

Sie können es auch umgekehrt formulieren: Diplomatie bleibt dann häufig heiße Luft, wenn sie nicht durch eine zumindest theoretisch vorhandene militärische Handlungsfähigkeit unterfüttert und abgestützt wird. Diplomatie wird schlagkräftiger, wenn sie von einer Stimme kommt, hinter der auch eine militärisch glaubwürdige Verteidigungs- und Handlungsfähigkeit steht. Dafür gibt es in der jüngeren Geschichte Europas viele Beispiele.

Nennen Sie uns eines?

Denken Sie etwa an die völlige Ohnmacht der militärisch unfähigen Europäer in den 1990er Jahren, als wir Hunderttausende von Menschen in Bosnien sterben ließen, weil wir zwar diplomatisch täglich aktiv waren, diesen diplomatischen Aktivitäten aber keinen militärischen Nachdruck verleihen konnten. Erst als die USA mit ihrer Luftwaffe eingriffen, drehte sich plötzlich das Verhandlungsglück. Innerhalb von wenigen Monaten war Frieden erreicht. Das ist ein klassisches Lehrbuchbeispiel, wie Diplomatie Kriege erfolgreich sehr viel leichter beenden oder gar verhüten kann, wenn sie durch militärische Handlungsfähigkeit unterfüttert ist.

Wie sähe das optimale Vorgehen des Westens mit Blick auf die russische Politik aus, Einflusssphären nach und nach zu erweitern?

Im nordatlantischen Bündnis galt in der Zeit des Kalten Krieges das Prinzip des Harmel-Berichts: so viel Verteidigung wie nötig und so viel Dialogbereitschaft und Verhandlungsbereitschaft wie möglich. Das war unter den Bedingungen der ideologischen Auseinandersetzung und der militärischen Gefahren des Kalten Krieges im Rückblick eine kluge und erfolgreiche Politik. Es spricht überhaupt nichts dagegen, genau diesen Grundsatz auch heute zur Geltung zu bringen. Also genauso viel militärische Verteidigungs- und Handlungsfähigkeit wie nötig bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer Politik der offenen Tür gegenüber Russland, bei Verhandlungsangeboten an Russland, bei dem Angebot an Russland, das Land wieder als Partner zu definieren, wenn Russland bereit ist, diesen Schritt ebenfalls zu vollziehen. Ich empfehle ausdrücklich, die Tür offenzuhalten.

So viel Verteidigung wie nötig und so viel Dialogbereitschaft und Verhandlungsbereitschaft wie möglich. Es spricht überhaupt nichts dagegen, genau diesen Grundsatz auch heute zur Geltung zu bringen.Botschafter Wolfgang Ischinger

Heißt das konkret für Russland, die Bestimmungen des Minsker Abkommens umzusetzen, damit der Westen seine Sanktionen zurücknehmen kann?

Es gibt überall im Westen, in der NATO und weitgehend in der EU großes Einvernehmen, dass ohne einen Friedensprozess die Ostukraine betreffend eine Beruhigung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nicht möglich erscheint. Welche genauen Forderungen man im Bereich der Erfüllung der Minsk-Vereinbarung stellt, ist eine Detailfrage. Aber entscheidend ist, dass ohne einen Friedensprozess, zu dem alle ihre Beiträge leisten müssen, Fortschritte in der Beziehung zwischen dem Westen und Russland jedenfalls aus meiner Sicht kaum möglich erscheinen.

Die terroristische Bedrohung der freien Welt ist leider mittlerweile allgegenwärtig. Es gilt der eiserne Grundsatz ‚Mit Terroristen verhandeln wir nicht‘. Sind die Mittel der Diplomatie mit Blick auf Al-Kaida und den IS tatsächlich von vornherein ausgeschlossen?

Hier muss man sehr sorgfältig differenzieren. Es gibt heute fundamentalistische, terroristische Gruppen, mit denen Verhandlungen schlicht und ergreifend deswegen nicht sinnvoll erscheinen, weil diese Gruppen sich als ihr Handlungsprinzip die Zerstörung des Westens und seiner Ordnung vorgenommen haben. Ich denke insbesondere an den ‚Islamischen Staat‘.

Es gibt andere Gruppen wie beispielsweise die Taliban in Afghanistan, mit denen möglicherweise Verhandlungen über eine nicht militärische Vorgehensweise zumindest möglich erscheinen. Ob diese zu einem guten Ergebnis führen können, ist offen. Es ist immer wieder versucht worden, einen Verhandlungsprozess mit den Taliban zu eröffnen. Es gab etwa amerikanische Versuche und eine intensive deutsche Beteiligung daran. Das halte ich nicht für falsch. Wir sollten im Zweifel immer lieber einen Versuch mehr als einen Versuch weniger starten, auch mit solchen Gruppen ins Gespräch zu kommen. Aber mit dem ‚Islamischen Staat‘, mit blutigen Terrorgruppen, die eigentlich nur ein militärisches und kein für uns auch nur im Entferntesten akzeptables politisches Ziel verfolgen, scheint ein Dialog aus meiner Sicht von vornherein sinnlos zu sein.

Mit dem „Islamischen Staat“, mit blutigen Terrorgruppen, die eigentlich nur ein militärisches und kein für uns auch nur im Entferntesten akzeptables politisches Ziel verfolgen, scheint ein Dialog aus meiner Sicht von vornherein sinnlos zu sein.Botschafter Wolfgang Ischinger

Das heißt, in Bezug auf den IS bleibt nur die militärische Strategie?

Es bleibt kurzfristig die militärische Strategie. Langfristig stellt sich die große Aufgabe der Deradikalisierung und der Verhinderung von Radikalisierung. Dies setzt einen Prozess des Empowerments der Regierungen in der Region voraus. Dies setzt aber auch einen selbstkritischen Umgang der europäischen Gesellschaften mit ihrer eigenen Behandlung muslimischer und arabischer Minderheiten in ihren Ländern voraus. Denn wie wir heute wissen, haben sich Hunderte, wenn nicht Tausende von bei uns in Europa geborenen, jungen Menschen dem ‚Islamischen Staat‘ zugewandt.

Wir müssen auch bei uns nach Möglichkeiten suchen, um in einer frühen Phase Radikalisierungstendenzen auszumerzen und ihnen entgegenzuwirken. Hier ist zu lange weggeschaut worden, als sich unter dem Deckmantel der Religion an Moscheen und in anderen Institutionen radikale Sprücheklopfer breitmachen konnten, um solche Verführungsaktivitäten zu starten. Es geht also nicht nur um die Art und Weise, wie wir den Staaten in der Region dabei helfen können, sich so zu öffnen, dass radikalen Gruppen weniger Handlungsspielraum gegeben wird, sondern wir müssen die Quellen des Radikalismus auch bei uns zu Hause hier in Europa bekämpfen.

Welche Rolle wird die NATO in zehn Jahren in der transatlantischen Sicherheitspolitik einnehmen?

Die Gewichte in der NATO werden sich hoffentlich derart verschieben, dass der finanzielle Beitrag der europäischen NATO-Partner einen deutlich höheren Anteil einnimmt als die derzeitigen 30 Prozent. Dadurch wird die NATO in zehn Jahren eine gesündere und in sich harmonischer zusammenarbeitende Gemeinschaft sein können als heute.

Wir werden ohne den amerikanischen nuklearen Schirm in Europa auf längere Sicht nicht auskommen können.Botschafter Wolfgang Ischinger

Alleine schon wegen der nuklearen Komponente wird die NATO gerade aus der Perspektive deutscher strategischer Politik an ihrer Bedeutung überhaupt nichts einbüßen. Wir sind ein nicht-nukleares Land. Wir werden es auch dann bleiben müssen und fest zu unseren vertraglichen Verpflichtungen stehen müssen, wenn die Nichtverbreitungspolitik nicht so erfolgreich ist, wie wir uns das erhoffen. Wenn also weitere nukleare Staaten – etwa Nordkorea, der Iran und andere – entstehen sollten. Deshalb werden wir ohne den amerikanischen nuklearen Schirm in Europa auf längere Sicht nicht auskommen können. Daher ist es eine grob fahrlässige und falsche Politik, wenn einige so tun, als wäre jetzt angesichts des Phänomens Donald Trump ein guter Augenblick gekommen, die transatlantische militärische Nabelschnur zu zerschneiden. Wir brauchen die NATO weiterhin, denn es ist nicht ersichtlich, dass sich in absehbarer Zeit die Gefahr des Einsatzes nuklearer Waffen und damit auch die Notwendigkeit, von ihrem Einsatz abschrecken zu können, reduzieren oder sich in Luft auflösen wird.

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