Interviewreihe Zukunft der NATO

Röttgen: „Absurde Vielfalt von Waffensystemen“

Röttgen: „Absurde Vielfalt von Waffensystemen“ Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages von 2014 bis 2017. Foto: Dr. Norbert Röttgen MdB

Interview: David Deißner und Robin Fehrenbach

Teil IV unserer Serie: Norbert Röttgen bemängelt die Ineffizienz des europäischen Pfeilers der NATO in Fragen der Ausgaben und Rüstung. Im Gespräch mit der Atlantik-Brücke plädiert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages von 2014 bis 2017 für mehr europäische Stärke und Selbstständigkeit innerhalb des Verteidigungsbündnisses. In der deutsch-französischen Entscheidung zur gemeinsamen Entwicklung eines neuen Kampfjets sieht er allerdings keinen Fortschritt.

Herr Röttgen, Sie haben unlängst im Tagesspiegel den Standpunkt eingenommen, dass Russlands politische Beheimatung in Europa vorläufig gescheitert ist. Sie sprechen von „westlich-europäischer Gutwilligkeit“, „Gedankenlosigkeit“ und „Überheblichkeit“ auf der einen und von tief sitzender russischer Selbstverunsicherung und zunehmender Systembedrohung auf der anderen Seite. Hat auch die Osterweiterung der NATO daran einen Anteil?

Die Osterweiterung der NATO ist ein Anwendungsanfall genau dieser unterschiedlichen Perzeptionen. Aus russischer Sicht ist die Osterweiterung ein wichtiges Beispiel dafür, dass der Westen Russland auf den Pelz rückt, es einkreist, und zwar unter Bruch des gegebenen Wortes. Das wird als ein bedeutsames Beispiel des aggressiven, gegen Russland gerichteten Verhaltens des Westens und vor allem der Amerikaner gesehen. Aus unserer europäisch-westlichen Sicht steht hinter der NATO-Erweiterung die aus der gewonnenen Selbstbestimmung der osteuropäischen Staaten folgende Entscheidung, wie sie am besten für ihre nationale Sicherheit sorgen: nämlich indem sie sich auch aufgrund ihrer historischen Erfahrungen dem kollektiven Verteidigungsbündnis der NATO anschließen.

Gewissermaßen eine Westorientierung osteuropäischer Staaten.

Genau, was aber in Russland als Ostdrang des Westens wahrgenommen wird. Darum ist die Osterweiterung ein signifikantes Beispiel für dieses Aufeinanderprallen unterschiedlicher Sichtweisen, denen wir als Westen zu wenig Beachtung geschenkt haben. Dies wiederum wird jetzt von Putin natürlich als Teil eines legitimierenden Narrativs für die eigene Machtausübung benutzt.

Sie haben im Sommer 2017 im Deutschlandfunk den Abzug der Bundeswehrsoldaten vom Luftwaffenstützpunkt in Incirlik konsequent genannt, da die Türkei das Besuchsverbot für deutsche Parlamentarier nicht aufgehoben hat. Auf dem NATO-Stützpunkt in Konya sind dagegen weiter deutsche Truppen stationiert. Wird die Türkei auf Dauer ein NATO-Mitglied bleiben?

Nach meiner Einschätzung: Ja, aber mit einem politischen Sonderstatus. Das ergibt sich aus der Interessenlage beider Seiten, die leider nicht mehr von einer gemeinsamen Wertebasis getragen wird. Es entspricht nicht der Interessenlage der Türkei, ein Land ohne feste Anbindung zu sein. Für die Türkei bietet sich zur NATO keine Alternative, vor allem ist Russland keine Alternative. Das Verhältnis zur EU hat sich bereits verändert, aber die NATO bleibt ein wichtiger Stützpfeiler für die Türkei. Die NATO hat kein Interesse daran, dass die Türkei ein vagabundierendes Land in dieser Region wird, die zunehmend instabil und gleichzeitig für die Sicherheit Europas von größter Bedeutung ist. Es ist für uns sicherheitspolitisch alles andere als egal, wie die Türkei als ein großes sunnitisch geprägtes Land im gesamten arabischen Raum agiert, von Katar über Irak bis nach Syrien.

Gravierend ist nun, dass diese Interessenbasis mit der Wertebasis kollidiert. Wir haben immer großen Wert darauf gelegt, die NATO als eine Wertegemeinschaft zu verstehen. Aber die Türkei verwandelt sich zielgerichtet und bewusst durch ihren Präsidenten in ein antidemokratisches Herrschaftsregime. Dieses bekämpft aktiv Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz und freie Presse. Die Türkei baut einen inhärenten Gegensatz zum Anspruch der NATO auf, eine demokratische Wertegemeinschaft zu sein.  Dieser Gegensatz bleibt nicht ohne Konsequenzen für das Binnenverhältnis zwischen der NATO und der Türkei.

Für die Türkei bietet sich zur NATO keine Alternative, vor allem ist Russland keine Alternative.Norbert Röttgen

Sie begleiten die Verteidigungspolitik seit 2014 in verantwortlicher Position als Außenpolitiker. Wie hat sich die Bundeswehr in dieser Zeit entwickelt und wo liegen noch unerschlossene Potenziale?

Der 20 Jahre dauernde Schrumpfungsprozess der Bundeswehr ist in der vergangenen Legislaturperiode beendet worden. Diesem Prozess lag die Fragestellung zugrunde, wofür wir diese Armee des Kalten Krieges noch brauchen. Die Antwort wurde nie wirklich gegeben und die Folge waren 20 Jahre Sparpolitik und eine gewisse politische Marginalisierung der Bundeswehr. Mit der Veränderung der politischen Lage in Europa, genauer gesagt mit der neuen russischen Politik sowie den seither eintretenden Krisen vor allem in der geopolitischen Umgebung Europas, hat die Bundeswehr seit knapp vier Jahren wieder Bedeutung erlangt als ein wichtiges sicherheitspolitisches Instrument.

Machen wir es konkret: Im Juli 2017 haben Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigt, dass Frankreich und Deutschland gemeinsam einen neuen Kampfjet entwickeln wollen. Welche Bedeutung hat dieser Schritt für eine einheitlichere Beschaffungspolitik der europäischen NATO-Mitglieder?

Dieser Schritt ist zunächst einmal eine Modernisierungsentscheidung, die ich für richtig halte. Es liegt allerdings keine zusätzliche Entscheidung für eine einheitlichere Beschaffung vor. Wenn man sich dazu entschließt, einen Kampfjet zu entwickeln, dann ist klar, dass man das im Rahmen der bislang schon übernational geschaffenen industriellen Strukturen umsetzt – mit Airbus als einem übernationalen Unternehmen. Dies ist aber kein zusätzlicher oder neuer Schritt hin zu einer Europäisierung der industriellen Strukturen in der militärischen Beschaffung.

Wenn man sich dazu entschließt, einen Kampfjet zu entwickeln, dann ist klar, dass man das im Rahmen der bislang schon übernational geschaffenen industriellen Strukturen umsetzt – mit Airbus als einem übernationalen Unternehmen.Norbert Röttgen

Der neue Kampfjet soll zunächst die aktuellen Flotten Deutschlands und Frankreichs ersetzen. Später soll er aber auch an andere europäische Länder verkauft werden. Könnte dies ein vielversprechendes Beispiel für das Pooling and Sharing-Konzept werden?

Kampfflugzeuge lassen sich in Europa nicht mehr national produzieren. Im Flugzeugbau ist es ausgeschlossen, dass ein europäisches Land diesen wettbewerbsfähig und technologisch auf dem modernsten Stand leisten kann. Dass Airbus nun einen neuen Kampfjet entwickelt, der später auch verkauft wird, ist nichts Neues, sondern reflektiert den Stand, den wir immerhin an Multinationalität im industriellen Rüstungssektor entwickelt haben.

Das Problem der Inkompatibilität der Waffensysteme in Europa ist ein viel diskutiertes Problem. Sehen Sie unmittelbar bevorstehende Fortschritte in der Effizienzsteigerung?

Nein, die sehe ich nicht. Darum habe ich auch betont, dass ich in der Entscheidung zum Kampfjet noch keinen Fortschritt sehe, sondern vielmehr den Status quo. Ich halte Fortschritte in Richtung einer gesteigerten Effizienz aber für absolut zwingend und notwendig. Die Vielfalt von Waffensystemen hat ein absurdes Ausmaß erreicht, das nicht mehr finanzierbar ist. Das neue sicherheitspolitische Umfeld zwingt dazu, diese schon bisherigen Absurditäten hinter uns zu lassen. Die EU-Europäer zusammen geben rund das Dreifache für Verteidigung aus wie Russland. Dies reflektiert nicht unsere Fähigkeiten, weil wir alles zehnfach, fünfzehnfach und zwanzigfach haben, also extrem ineffizient sind.

Die EU-Europäer zusammen geben rund das Dreifache für Verteidigung aus wie Russland. Dies reflektiert nicht unsere Fähigkeiten, weil wir alles zehnfach, fünfzehnfach und zwanzigfach haben, also extrem ineffizient sind.Norbert Röttgen

Macron und Merkel betonten, dass die Kooperation ihrer Länder im Kampfjet-Projekt langfristig angelegt ist. Bräuchte der europäische Pfeiler in der NATO mehr solcher zielgerichteten, langfristigen und gemeinsamen Anstrengungen?

Absolut! Eine strategische Schlussfolgerung aus der Präsidentschaft Trump und darüber hinaus besteht darin, den europäischen Beitrag in der NATO zu stärken. Notwendig ist daher mehr europäische Stärke und Selbstständigkeit im Interesse der Europäer und der NATO. Dies muss sich in konkreten Zielen und gemeinsamen Unternehmungen widerspiegeln.

Deutschland und Frankreich wollen die Europäische Union in Zeiten des Brexit insgesamt stärken. Kann dieses bilaterale Kraftzentrum ein Ansatz sein, auch die militärische Zusammenarbeit in Europa strukturierter und effizienter zu gestalten, insbesondere im Hinblick auf ein Projekt wie die Eurodrohne?

In der Tat. Bei der Entwicklung der Europäischen Verteidigungsunion gibt es die bemerkenswertesten Fortschritte. Der Begriff ist noch etwas stärker als die Wirklichkeit, wird jetzt aber nach und nach mit Leben gefüllt, insbesondere mit der Entwicklung einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Die Sicherheitspolitik ist aus meiner Sicht die größte Leerstelle in der Geschichte der Europäischen Integration, und zwar aus der Geschichte selbst folgend. Es war in den 1950er Jahren anders geplant, doch Frankreich hat die europäische Verteidigungsgemeinschaft zurückgewiesen. Man hat dann sehr stark auf den Binnenmarkt gesetzt und dadurch Europa auch zu einem Binnenprojekt gestaltet. Was jetzt an wirklicher Veränderung erfolgen muss, ist die Ausweitung des Binnenprojektes Europa. Europa muss seine Rolle in der Welt finden. Die besteht nicht zuerst in Militär und Verteidigung. Wir müssen vielmehr eine politische, diplomatische und auch kulturelle, also sehr vielfältige Definition für diese neue Rolle leisten. Aber ohne gemeinsame sicherheitspolitische Fähigkeiten wird es eben auch keine relevante Definition dafür geben.

Die Sicherheitspolitik ist aus meiner Sicht die größte Leerstelle in der Geschichte der Europäischen Integration.Norbert Röttgen

Sie haben auf den Motor Frankreich-Deutschland abgestellt. Dieser Motor ist unerlässlich und darum eine Gelegenheit wie auch eine Verantwortung, ihn anzuschmeißen, um den europäischen Stillstand zu überwinden und zu Ergebnissen zu kommen. Wir brauchen jetzt praktisches Erleben europäischen Fortschritts. Das ist im deutsch-französischen Verhältnis möglich, aber wir müssen immer offen und anschlussfähig für alle anderen bleiben.

Größtenteils unabhängig von der NATO plant die EU den Aufbau der Europäischen Verteidigungsunion. Welche Empfehlung würden Sie der EU dabei mit auf den Weg geben?

Wir müssen darauf achten, dass sich vor allem die osteuropäischen Länder, insbesondere ein großes Land wie Polen, nicht ausgegrenzt fühlen und sagen: ‚Das ist nun endgültig die Institutionalisierung eines Zweiklassen-Europas. Deutschland und Frankreich bestimmen, und wir bleiben zurück.‘ Es ist extrem wichtig, dass wir es beim Fortschritt in der europäischen Sicherheitspolitik vermeiden, eine vorhandene Spaltung zu vertiefen.

Es ist extrem wichtig, dass wir es beim Fortschritt in der europäischen Sicherheitspolitik vermeiden, eine vorhandene Spaltung zu vertiefen.Norbert Röttgen

Die EU und die NATO sind allerdings auch in der Lage, Kooperationen voranzutreiben, wie das neue European Center of Excellence for Countering Hybrid Threats zeigt. Sind beide Institutionen auf dem richtigen Weg, der hybriden Kriegsführung angemessen zu begegnen?

Der Weg ist absolut richtig. Dies drückt auch aus, dass die EU-Staaten eine Teilmenge der NATO-Staaten bilden. Ich halte im Übrigen die Wettbewerbsbefürchtung für irreal und unbegründet. Das Center ist ein gutes Beispiel für die Kooperation beider Seiten, aber es befindet sich noch in der Anfangsphase. Die Entscheidung, der hochkomplexen Herausforderung durch Cyberattacken und Cyberbedrohungen gemeinsam zu begegnen, ist richtig. Sie muss jetzt aber noch mit Leben gefüllt werden.

Welche Rolle wird die NATO in zehn Jahren in der transatlantischen Sicherheitspolitik einnehmen?

Eine fortentwickelte und politisch ausgeweitete zentrale Rolle, weil sich im Laufe der nächsten zehn Jahre kein Substitut für dieses sicherheitspolitische Instrument aus europäischer und amerikanischer Sicht finden wird.

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