Außen- und Sicherheitspolitik

Ischinger und Gabriel: Europa muss handlungsfähiger werden

Botschafter Wolfgang Ischinger und Sigmar Gabriel sehen beim geopolitischen Ausblick auf 2020 gravierende Gründe für eine größere Souveränität der Europäischen Union. Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz und der Vorsitzende der Atlantik-Brücke analysierten bei einer Diskussion des Vereins Deutschlands Rolle in der Welt, die Lage der NATO nach Macrons Hirntod-Befund und die aufkeimende Hoffnung für den New-Start-Vertrag zur Reduzierung von Atomwaffen.

Von Robin Fehrenbach

Zwei der führenden Köpfe der außen- und sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland, Europa und der Welt haben bei der Atlantik-Brücke einen umfassenden geopolitischen Ausblick auf das Jahr 2020 geworfen. Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und früherer deutscher Botschafter in den USA und Großbritannien, und Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke und ehemaliger Bundesaußenminister und deutscher Vizekanzler, beschäftigten sich zunächst mit der Zukunft der Europäischen Union (EU). In Bezug auf das viel zitierte Interview des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Economist zum Zustand der NATO stellte Ischinger die Frage: „Ist die EU möglicherweise auch hirntot oder gelingt ein Aufbruch unter der neuen Kommission unter Ursula von der Leyen?“ In Europa stehe im kommenden Jahr mehr denn je die Handlungsfähigkeit der EU im Zentrum der Agenda, bemerkte er zu Beginn der Tour d’Horizon, die von Anna Sauerbrey, Mitglied der Chefredaktion des Tagesspiegels, moderiert wurde.

Ischinger zeigte den aus seiner Sicht sinnvollsten Weg auf, wie die Staatengemeinschaft unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands mehr Souveränität erlangt. „Es nützt nichts, über eine Europäische Armee und Europas strategische Autonomie zu diskutieren, solange die EU nicht qualifizierte Mehrheitsentscheidungen einführt und damit außenpolitisch endlich handlungsfähig wird“, betonte er. Sigmar Gabriel ergänzte diese Forderung mit einem Vorschlag, der Deutschland und Frankreich als stärkste Mitgliedsstaaten der EU betrifft. „Es wäre einen ernsthaften Versuch wert, dass Deutschland und Frankreich per Regierungsbeschlüssen im Europäischen Rat durchsetzen, dass Nein-Stimmen von Berlin bzw. Paris in den Räten als Enthaltung gewertet werden würden“, sagte Gabriel. Dieser Versuch könnte auch dazu dienen, wieder eine positive Vision von Europa zu schaffen. Gabriel sagte, dass Europa zwar eine starke Gründungsgeschichte habe – aus Feinden wurden Freunde –, sich diese aber überlebt habe. Die neue Erzählung müsste von Europas Bereitschaft zu eigenständiger Souveränität handeln.

Deutschland ist gefordert zu agieren

Dass 2020 nur der Auftakt einer Reihe von geopolitischen Herausforderungen sein wird, die auf Deutschland und Europa zukommen, verdeutlichte der Vorsitzende der Atlantik-Brücke. „2020 bricht ein Jahrzehnt an, in dem wir Deutsche und Europäer vermutlich mit den größten politischen, wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Herausforderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert sein werden“, hielt Gabriel fest. Deutschland erlebe derzeit die Windstille im Auge des Orkans. Ischinger stimmte dieser Analyse zu und gab zu bedenken, dass Deutschland zwar seit der Wiedervereinigung von Freunden und Partnern umgeben sei. „Wenn die Nachbarstaaten jedoch nicht in Richtung Deutschland blicken, sondern in die entgegengesetzte Richtung, sehen sie sofort nur Bedrohungen und Krisen, gewissermaßen einen ring of hell“, sagte Ischinger. Das Umgebensein von Verbündeten bedeute nicht, sich aus der Weltpolitik zurückziehen zu können, mahnte er. „Die Zeiten sind vorüber, in denen wir uns unter der großen amerikanischen Käseglocke nur um die weitere Integration Europas kümmern konnten.“

Die vielen permanenten Verschiebungen von Machtachsen in der Welt verändern demnach auch die Anforderungen an Deutschlands geopolitische Rolle. Sigmar Gabriel machte diesen Befund an einem Beispiel deutlich, das schon sehr bald strategisches Handeln der Bundesregierung erfordern könnte: „In der Libyen-Krise beklagen wir Deutschen uns regelmäßig über die vielen von dort stammenden Flüchtlinge. Wie verhalten wir uns, wenn es zu einer Regierung der nationalen Einheit kommen sollte und diese uns um konkrete Hilfe bittet?“

Das 2-Prozent-Ziel der NATO als vermeidbarer Konflikt

Im weiteren Verlauf setzten sich Ischinger und Gabriel mit der Entwicklung der NATO auseinander. Zum 2-Prozent-Ziel des westlichen Verteidigungsbündnisses sagte Ischinger, dass es in Deutschlands Interesse liege, sicherheitspolitisch handlungsfähig zu sein. Die Bundesrepublik müsse folglich Mittel ausgeben, um die eigene Bevölkerung zu schützen und ihre Bündnisverpflichtungen sowohl in der NATO als auch in der EU zu erfüllen. Auch Gabriel hält die transatlantische Auseinandersetzung um das 2-Prozent-Ziel für einen „vermeidbaren Konflikt“: Deutschland sollte 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Belange der Bundeswehr ausgeben und 0,5 Prozent des BIP für die Fonds der NATO, die Osteuropa, insbesondere dem Baltikum und Polen, zugutekommen, bekräftigte er. Wolfgang Ischinger fügte hinzu, dass die NATO die Osteuropäer von einem substanziell verbesserten Verhältnis des Westens zu Russland überzeugen müsse, indem das Bündnis „aus der Perzeption und Position der Stärke“ mit Russland verhandele.

Nach dem Aus des INF-Vertrags rückt der New-Start-Vertrag in den Fokus

Seit der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 ist das Verhältnis zu Russland wieder weit nach oben auf der Liste der geostrategischen Herausforderungen gerückt. Mit der Aufkündigung des INF-Vertrags durch Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika spielt dabei die weitere internationale Rüstungskontrolle insbesondere von Nuklearraketen eine herausragende Rolle. Wolfgang Ischinger bewertete es als ermutigendes Zeichen, dass Russland unlängst Bereitschaft signalisiert hat, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Sigmar Gabriel hält es dagegen für wahrscheinlich, dass mit der Kündigung des INF-Vertrags eine Tendenz gegen nukleare Abrüstung eingeleitet wurde. Er unterstützte indes die Forderung nach einem stärkeren Engagement Deutschlands und Europas in dieser Frage.

Der Konflikt im Osten der Ukraine stellt eine weitere geopolitische Herausforderung im Umgang mit Russland dar. Vor dem Hintergrund der aktuellen Verhandlungen im Normandie-Format ist Botschafter Ischinger der Meinung, dass eine neue Entspannungsära mit Russland nicht in Sicht ist. Präsident Wladimir Putin wolle seine Außenpolitik in Bezug zur Ukraine nicht grundsätzlich ändern. Diese Politik nütze ihm. Zwar sei das Ziel der Mitgliedschaft in der NATO in der ukrainischen Verfassung verankert, jedoch gehöre der Donbass de facto zu Russland – was einen Beitritt der Ukraine zum Bündnis ausschließe. „Die Ukraine wird ein frozen conflict“, sagte Ischinger. Aus seiner Sicht werde die Umsetzung des Minsker Abkommens nicht erfolgen. Dennoch sollte man das Gespräch mit Russland weiterhin führen.

Europa in anspruchsvoller Position zwischen den USA und China

Der andere große Akteur neben den USA und Russland im Wettstreit der großen Mächte ist zweifellos die Volksrepublik China. Gabriel erläuterte, warum sich Europa in einer höchst anspruchsvollen Position zwischen den USA und China befindet: „Militärisch und technologisch sind wir eng mit den Vereinigten Staaten verbunden – ökonomisch jedoch in großem Ausmaß mit China.“ Daher sei auch der angemessene Umgang mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei rund um den Aufbau von 5G-Netzwerken schwierig. „Die Huawei-Frage ist Kalter Krieg 2.0. Die USA wollen ihre technologische und militärische Überlegenheit gegenüber China verteidigen“, führte er aus. In diesem geopolitischen Geflecht darf Europa wiederum Russland nicht vernachlässigen. China trete deshalb nicht als systemischer Wettbewerber gegenüber Russland auf, da Russland zwar eine militärische Großmacht, aber ökonomisch instabil sei und im Land gesellschaftlicher Stillstand herrsche. „Wenn Europa in dieser Lage zu lange damit wartet, Russland ein Angebot für eine Kooperation in der Sicherheitsarchitektur zu machen, könnte Chinas Angebot in diesem Bereich weitaus attraktiver sein für Moskau“, sagte Gabriel.

Ischinger und Gabriel analysierten außerdem die aktuell eingetretene Handlungsunfähigkeit des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO), nachdem die USA eine Nachbesetzung von zwei Richterposten in der Schiedsstelle blockiert hatten. Es sei in der Tat zu befürchten, dass die WTO schwer beschädigt sei, bemerkte Ischinger. Die Alternative könne nicht darin bestehen, zum Status quo ante zurückzukehren, in dem sich größere Staaten handelspolitisch gegen kleinere leichter durchsetzen konnten als unter den fairen Regeln der WTO. „Die EU sollte sich nach Kräften dafür einsetzen, dass die WTO nicht untergeht. Eine Rückkehr zum geregeltem Welthandel mit Amerika ist weiterhin möglich“, sagte der Botschafter. Gabriel erwiderte darauf, dass die EU eine Reihe von bilateralen Freihandelsabkommen wie CETA und jenes mit dem Mercosur mit guten Mechanismen der Streitschlichtung verhandelt habe und auch weitere verhandele. Insofern sei die derzeitige Situation der WTO gerade für die EU nicht extrem kritisch. Was den Handelskonflikt zwischen den USA und China angeht, rechnet Gabriel damit, dass dieser in einer ersten Phase in ein Mini-Abkommen mündet. Dies ändere aber an der Substanz der Auseinandersetzung nichts, weil weite Bereiche des Handels zwischen den beiden größten Volkswirtschaften in diesem ersten Schritt nicht behandelt würden.

Multilaterale Kooperation versus autoritärer Nationalismus

All diesen in der Diskussion beleuchteten geopolitischen Herausforderungen und vielen weiteren wie Klimawandel und soziale Ungleichheit ist gemein, dass sie nur in internationaler Kooperation gelöst werden können. Gleichzeitig hat der autoritäre Nationalismus und Populismus im internationalen Maßstab an Stärke gewonnen. „Europa und die USA müssen eine Antwort darauf finden, dass die Grundannahme des Westens – Wohlstand entsteht durch Freiheit – weltweit in Frage gestellt wird“, forderte Gabriel deshalb.

Vorerst dürften die Vereinigten Staaten allerdings zunehmend mit sich selbst beschäftigt sein. Daher rundete eine Vorschau auf die US-Präsidentschaftswahl 2020 den außen- und sicherheitspolitischen Ausblick Ischingers und Gabriels ab. Sollten die Demokraten nicht imstande sein, bis zum Frühjahr einen Kandidaten jenseits der Trennlinie zwischen ihren und den republikanischen Wählern zu präsentieren, werde ein Sieg gegen Amtsinhaber Donald Trump äußerst schwierig. Das Impeachment-Verfahren gegen den Präsidenten werde ohne Verurteilung enden, bemerkte Ischinger. Dies könnte vorteilhaft für Trump sein, da er in dem Fall behaupten werde, seine Unschuld sei erwiesen. Gabriel lenkte den Blick in seiner Replik wiederum auf den Globus: Unabhängig davon wer nächster Präsident der USA werde, würde Europa mit einer geschlossenen Strategie für die internationalen Konflikte und Herausforderungen in den Vereinigten Staaten an Ansehen gewinnen.

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