Wirtschaft und Finanzen

„Perspektiven schaffen für die, die am weitesten vom Erfolg der Globalisierung entfernt sind“

Podcast mit Professor Dr. Michael Hüther

 

Im Interview mit Dr. David Deißner spricht der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Professor Dr. Michael Hüther, der Mitglied des Vorstands der Atlantik-Brücke ist, über die Thesen des Buches „Die erschöpfte Globalisierung: Zwischen transatlantischer Orientierung und chinesischem Weg“, das er zusammen mit Matthias Diermeier und Dr. Henry Goecke veröffentlicht hat. Im Gespräch wird erörtert, warum Globalisierung nicht nur ein ökonomisches, sondern ein normatives Projekt ist. Außerdem geht es darum, unter welchen Bedingungen dieses Projekt in Zeiten von „America first“ gelingen kann, wie mit dem Gefühl nationalen Identitätsverlusts umgegangen werden sollte und wie die Machtverschiebungen in der internationalen Ordnung zu beurteilen sind. Lesen Sie im Folgenden eine gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung unseres Podcasts „Atlantik-Brücke On The Record“ mit Professor Dr. Hüther.

David Deißner: Die “erschöpfte Globalisierung“ – wer oder was genau ist erschöpft?

Michael Hüther: Globalisierung ist, ökonomisch betrachtet, ein Vorgang intensivierter Arbeitsteilung – das hat zu tun mit Warenaustausch, mit Handel von Dienstleistungen, mit Kapitalverkehr, aber auch mit Wissensdiffusion. Wenn man sich diese Indikatoren anschaut, wird man feststellen, dass nach einer dynamischen Bewegung von gut zwei Jahrzehnten seit 2012 eine Art Erschöpfung in dem Sinne eingetreten ist, dass der Welthandel nicht mehr stärker expandiert als die Weltproduktion, dass die Anzahl der dynamischen Volkswirtschaften mit mehr als vier Prozent Wachstum im Jahr nicht mehr steigt, dass es auch nicht gelingt, weitere Räume zu integrieren. Auch in den etablierten Industrieländern der nördlichen Hemisphäre ist es nicht mehr selbstverständlich, Globalisierung als wohlstandsmehrenden Prozess zu verstehen.

In den ersten Kapiteln Ihres Buches beschreiben Sie die erste Phase der Globalisierung vom neunzehnten Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Sie gehen darauf ein, wie im Zuge von Industrialisierung und Kolonialisierung fremde Weltregionen in die westliche Welt eingebunden werden konnten, wie der Wohlstand zunahm und die Bevölkerung wuchs. Aber Sie sprechen auch über die Schattenseiten dieser Entwicklung – Fremdbestimmung, Unterdrückung durch Kolonialismus. Kann man sagen, dass die Globalisierung von Anfang an eine Gewinner- und eine Verliererseite hatte?

Globalisierung ist nie ohne Konflikte und nie ohne Verwerfungen gewesen, weil sich durch einen Prozess, der Barrieren senkt, eine hohe Dynamik entfaltet. Dynamik heißt Umgehen mit Anpassungsnotwendigkeiten. Dies gelingt Menschen unterschiedlich schnell und unterschiedlich gut. Auch Systeme sind nicht gleich gut auf den Umgang damit vorbereitet – Bildungs- und Sozialsysteme beispielsweise.

Spannend an der Globalisierung ist, dass sie schon in der Phase nach 1900 den Zeitgenossen unumkehrbar schien. Entstanden ist sie nach 1870, aber sie war den Menschen selbstverständlich geworden. Das abrupte Ende dieser Öffnung mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges war eine Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht nur in den ganzen Folgen, die sich daraus ergaben. Diese Öffnung hatte natürlich aber in den ganzen Kolonien viele Entwicklungen zur Folge, die wir heute sehr kritisch sehen.

In der heutigen politischen Diskussion ist Globalisierung für viele Menschen negativ konnotiert. Wie lässt sich das erklären?

Es gibt Globalisierungsverlierer. In den USA gibt es beispielsweise 2,5 Millionen verlorene Industriearbeitsplätze, die nicht kompensiert worden sind. In Deutschland hatten wir vergleichbare Verluste, nur waren wir in der Lage, in der Industrie neue Arbeitsplätze zu schaffen. Freier Handel und Kapitalverkehr führen zu Anpassungslasten. Am Ende ist die Dynamik höher, aber in Anpassungsphasen gibt es immer auch Verlierer.  Dann gab es die Finanzkrise 2008/2009, die auch einen Kontrollverlust staatlicher Institutionen deutlich gemacht hat. Das Gleiche gilt für die Flucht- und Migrationskrise, bei der auf einmal bestehende Sicherheitserwartungen nicht mehr erfüllt werden konnten.

Auf der anderen Seite merken wir, dass Präsident Trump mit seinem Verhalten wieder dazu führt, darüber nachzudenken, wie gut es eigentlich ist, wenn man sich international ins Benehmen setzt.

In den letzten Monaten wurde immer wieder diskutiert, was die Wut und Unzufriedenheit in weiten Teilen der Gesellschaft erklärt. Ist es die fehlende Teilhabe an den Wachstumseffekten oder handelt es eher um eine Identitätskrise westlicher Gesellschaften?

Ich glaube, beides ist bedeutsam. Es ist eine Tatsache, dass einige sich schwerer tun in einer dynamischeren Ökonomie. Schauen Sie sich heute Deutschland an: 80 Prozent der 25- bis 64-Jährigen sind in Arbeit. Der Wert ist deutlich höher als der der USA, die früher einen höheren Wert hatten. Im Jahre 2000 waren es bei uns unter 70 Prozent.

Der andere Faktor ist Identität. Es gibt bis in die gesellschaftliche Mitte hinein eine Spaltung. Man hat zwei ähnlich gut situierte Gruppen. Die eine ist weltoffen, international, transatlantisch. Die andere hat die gleiche Ausgangssituation, ist aber ängstlich und fürchtet den Verlust von Identität. Damit muss man umgehen, indem man beispielsweise den Diskurs über den Nationalstaat führt. Wir können Globalisierung nicht ohne Nationalstaaten denken.

In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Verschiebung im globalen Machtgefüge. Was bedeutet das, ökonomisch und geopolitisch?

Wir haben nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der zunehmenden Integration Chinas gedacht, es gäbe eine selbstverständliche ökonomisch-demokratische Modernisierung. George Bush senior hat Anfang der 1990er Jahre gesagt, man muss mit China nur lange genug freien Handel treiben, dann wird es zur Demokratie. Diese Modernisierungserwartung ist nicht eingetreten und wir haben vergessen darauf hinzuweisen, dass Marktwirtschaft nicht getrennt von Demokratie zu sehen ist. Das wieder zum Thema zu machen ist sehr wichtig, gerade im neuen Systemwettbewerb mit China.

Was können wir tun, um die Globalisierung zu revitalisieren?

Es ist wichtig, dass wir jene Region, die am weitesten vom Erfolg der Globalisierung entfernt ist, nämlich Subsahara-Afrika, mit einer Perspektive ausstatten. Das wird nicht gelingen, wenn wir Entwicklungshilfe so machen, wie wir sie bisher gemacht haben. Der Compact with Africa ist wegweisend, weil er die afrikanischen Staaten dazu auffordert, eigene Lösungen einzubringen.

Wir müssen auch darauf hinweisen, dass Globalisierung als Wirtschaftsmodell normativ in unsere Werte eingebettet ist. Wenn das wieder sichtbar wird, wenn man nicht nur einen wabernden Kapitalismus sieht, in dem große Kapitale hin- und hergeschoben werden, dann entsteht auch wieder Vertrauen.

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