Reading List zu den US-Zwischenwahlen 2022
Von Julia Friedlander und Robin Fehrenbach
Am kommenden Dienstag, 8. November, sind die wahlberechtigten Amerikanerinnen und Amerikaner in den Midterm Elections aufgerufen, einen neuen Kongress zu bestimmen. Genauer gesagt wählen sie das gesamte Repräsentantenhaus und etwa ein Drittel des Senats. Außerdem finden in einigen US-Bundesstaaten Parlaments- und Gouverneurswahlen statt. Noch hält die Demokratische Partei von Präsident Biden knappe Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses. Die Republikanische Partei, die nach wie vor unter starkem Einfluss des früheren Präsidenten Trump steht, will sowohl das Repräsentantenhaus als auch den Senat zurückgewinnen. In diesem Fall eines „split government“ wäre das Regieren für Biden in den kommenden zwei Jahren sehr viel schwieriger als bisher.
Die relevanten Themen für die Wählerinnen und Wähler reichen von der Lage der amerikanischen Wirtschaft – gekennzeichnet durch eine hohe Inflation nicht zuletzt bei den Energiepreisen – bis zum Umgang mit dem Recht auf Abbruch von Schwangerschaften. Hinzu kommen strukturelle Faktoren des Wahlsystems in den USA, die eine Rolle für den Wahlausgang spielen werden. Dazu gehören unter anderem das Gerrymandering, also der gezielte Zuschnitt von Wahlbezirken zugunsten einer Partei, umstrittene Wahlrechtsreformen in einzelnen Bundesstaaten in Bezug auf den Zugang insbesondere von Minderheiten zum Wahlvorgang und der demografische Wandel. In diesem „Election Special“ möchten wir Ihnen unsere Reading List zu den Zwischenwahlen 2022 empfehlen, die aus amerikanischen und europäischen Medien zehn aus unserer Sicht äußerst lesenswerte Beiträge aufführt.
Themenspektrum
The Economist: Democrats are losing on the economy, but lead on other issues. 6. Oktober 2022
Der Economist setzt sich mit dem harten Ringen der Demokratischen und der Republikanischen Partei um das Vertrauen der Wähler in der Frage auseinander, wer von beiden die bessere Wirtschaftspolitik macht. Einer Gallup-Umfrage zufolge vertrauen nur 41 Prozent der Befragten den Demokraten mehr als den Republikanern, kompetenter in Wirtschaftsfragen zu sein; dagegen sprechen 51 Prozent den Republikanern ihr Vertrauen in diesem Themenfeld aus. Allerdings führen in einer YouGov-Umfrage die Demokraten um 18 Prozentpunkte unter denjenigen, die andere innenpolitische Themen wie die Gesundheitsversorgung, den Kampf gegen den Klimawandel und das Recht auf Abtreibung vor Wirtschaftsfragen priorisieren.
Inflation
Die beiden Reporter analysieren Präsident Bidens Ankündigung, weitere 15 Millionen Barrel Erdöl aus der nationalen strategischen Reserve für den Verkauf freizugeben. Demzufolge setzten relativ hohe Benzinpreise und die Kritik der Republikaner an Bidens Wirtschafts- und Energiepolitik den Präsidenten kurz vor den Midterms unter Druck, Schritte zur weiteren Senkung bzw. Stabilisierung der Preise zu unternehmen. Bereits im Frühjahr hatte die Regierung die Freigabe von 180 Millionen Barrel angekündigt, was der bisher größten Absenkung der Reserve entspricht.
Eine Teuerungsrate von 8,2 Prozent in den USA belastet Privathaushalte und Unternehmen, wie Christof Leisinger aus New York berichtet. Nach Schätzungen der Energiebehörde EIA muss die Bevölkerung durchschnittlich sogar bis zu 30 Prozent mehr für Erdöl, Gas und Strom ausgeben als vor einem Jahr. Neben der Energie haben fast alle Güter und Dienstleistungen einen hohen Preisauftrieb erfahren. Ursächlich für die Inflation seien gestörte Lieferketten als Folge der Corona-Pandemie, umfangreiche geld- und fiskalpolitische Maßnahmen sowohl unter Präsident Trump als auch unter Präsident Biden und eine starke Nachfrage. Vor den Zwischenwahlen mache diese Situation die US-Bürger politisch unzufrieden. Die Federal Reserve dürfte die Leitzinsen abermals erhöhen, um die Inflation zu senken. Dadurch entstehen Gefahren für die konjunkturelle Entwicklung und den insgesamt robusten Arbeitsmarkt in den Vereinigten Staaten.
Abtreibung
The New Yorker: Will abortion be enough to save Democrats in November? 6. Oktober 2022
Susan B. Glasser geht in ihrer Kolumne „Letter from Biden’s Washington“ der Frage nach, ob die Haltung der Demokraten zum Recht auf Abtreibung deren Wählerschaft ausreichend mobilisiert. Die Entscheidung des mehrheitlich konservativ besetzten Supreme Court, das Grundsatzurteil Roe v. Wade von 1973 zu kippen, hat insbesondere Anhänger der Demokraten erschüttert. Die der Partei nahestehende Demoskopin Anna Greenberg hält in diesem Kontext zwei Taktiken der Demokraten für erfolgversprechend: zum einen Kritik an einzelnen Kandidaten wie dem Republikaner Hershel Walker, der in Georgia um einen Sitz im US-Senat kämpft. Dieser tritt als fundamentaler Abtreibungsgegner auf, soll aber selbst den Abbruch einer Schwangerschaft bei einer Frau bezahlt haben, mit der er eine Beziehung hatte. Zum anderen geht es um generelle Aufrufe der Demokraten, in republikanisch dominierten Bundesstaaten gegen das Verbot von und den restriktiven Zugang zu Abtreibungen vorzugehen.
Wahlkampagnen
Demokraten und Republikaner reden in ihren Wahlkampagnen aneinander vorbei, ohne oder nur mit einer geringen Schnittmenge an Themen, die sie für relevant halten – so lautet die zentrale These von David Smith, Leiter des Büros des Guardian in Washington, D.C. Während republikanische Wahlkämpfer häufig ihre Wirtschaftspolitik und den Umgang mit Kriminalität in den Mittelpunkt ihrer Agenda stellten, betonten demokratische Kandidaten in erster Linie, sich für den Kampf gegen die Klimakrise, die Sicherheit im Umgang mit Schusswaffen und das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung einsetzen zu wollen. Sie verhielten sich so, da ihre Wählerinnen und Wähler ihnen Umfragen zufolge in völlig unterschiedlichen Politikfeldern die klar höhere Kompetenz zuweisen. Die beiden Parteien richteten sich nach ihren wahrgenommenen Stärken aus. Hier spiegelt sich die enorme Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft wider. Der Autor und Demoskop John Zogby fasst dies folgendermaßen zusammen: „Früher gab es eine gemeinsame Reihe von Themen mit verschiedenen Ansätzen. Bei dieser Wahl geht es um unterschiedliche Realitäten.“
Gerrymandering
The New York Times: The mess in Los Angeles points to trouble for Democrats. 19. Oktober 2022
Gastautor Thomas B. Edsall beleuchtet in seinem Essay den Rassismus-Skandal um drei demokratische Mitglieder des Stadtrats von Los Angeles, darunter der inzwischen zurückgetretene Präsident, und einen Gewerkschaftsführer. In einem enthüllten Audio-Mitschnitt eines Gesprächs der vier Latinos ist zu hören, wie sie sich im Zuge des ethnischen Gerrymanderings herabwürdigend über Afroamerikaner in ihrem Wahlbezirk äußern. Im Kern seien die Männer darauf aus gewesen, ihre Macht auf Kosten schwarzer Konkurrenten innerhalb der eigenen Partei auszudehnen. Dieser Fall der Neueinteilung der Wahlkreise versinnbildliche eine „Ich gewinne, du verlierst“-Politik, ein Nullsummenspiel in einem Umfeld von Ungleichheit im Zugang zu knappen Ressourcen etwa in der Bildungspolitik und im Wohnungsbau.
Wahlrechtsreformen
Senior News Reporter Khaleda Rahman erläutert, auf welche neuen Hürden Wählerinnen und Wähler in mehreren US-Bundesstaaten treffen, wenn sie ihre Stimme abgeben wollen. Hintergrund sind Wahlrechtsreformen in überwiegend republikanisch dominierten Staaten, die den Zugang insbesondere für Minderheiten zum Wahlvorgang erschweren. Dem Brennan Center for Justice zufolge sind bereits für diese Midterms 33 restriktive Wahlgesetze in 20 Bundesstaaten in Kraft – dies sei beispiellos in der jüngeren Geschichte der USA. Zu den darin enthaltenen Maßnahmen gehören beispielsweise das Streichen von registrierten Wählern von der Liste für eine vorzeitige Stimmabgabe, erschwerte Bedingungen für die Beantragung von Briefwahlunterlagen und das Verbot, Wählern in einer Warteschlange vor einem Wahllokal Wasser oder einen Snack zu reichen.
Leugnen des Wahlausgangs
The Atlantic: Bad losers. 3. Oktober 2022
Spätestens seit der US-Präsidentschaftswahl 2020 gehört das Leugnen eines Wahlausgangs zu den Gefahren, die die amerikanische Demokratie existenziell bedrohen. Die nun anstehenden Zwischenwahlen könnten die letzte Chance sein, Wahlleugnern etwas entgegenzusetzen, schreibt Tim Alberta. Anhand der Erfahrungen des überparteilich anerkannten Wahlaufsehers Chris Thomas in Detroit schildert er, wie Anhänger von Ex-Präsident Trump die Integrität und Legitimation der Wahlen angegriffen haben und weiterhin attackieren. Das Vertrauen in die Institution der fairen und freien Wahl ist nachhaltig erodiert: Mehr als die Hälfte der republikanischen Wähler glauben, dass bei der Wahl 2020 betrogen wurde.
Zwei-Parteien-System
Ein Spezifikum der US-Wahlarchitektur ist das binäre Parteiensystem bestehend aus der Demokratischen und der Republikanischen Partei. Die Autorin geht dem Umstand auf den Grund, warum es eine dritte Partei in den Vereinigten Staaten historisch betrachtet schwer hat. Dabei wünscht sich laut einer Untersuchung von Gallup mehr als die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung eine weitere politische Kraft neben den beiden etablierten Parteien. Zunächst mache das Prinzip „First past the post“ es unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten fast unmöglich, einen Sitz im Repräsentantenhaus oder Senat zu gewinnen, da das Mehrheitswahlrecht und nicht das Verhältniswahlrecht gilt. Hinzu komme, dass die Wähler einer dritten Partei quasi keinerlei Chancen einräumen und sich meistens zwischen der Grand Old Party und den Demokraten entscheiden. Dies führe dazu, dass die Green Party, die Libertarian Party und die Constitution Party keine Rolle spielen und nicht einmal in allen 50 Bundesstaaten aktiv sind.
Rolle des Präsidenten
Frankfurter Allgemeine Zeitung: So will Biden die Wähler für sich gewinnen. 21. Oktober 2022
US-Präsident Biden hat nach wie vor mit schwachen Zustimmungswerten zu kämpfen. Nur 40 Prozent der Amerikaner attestieren ihm, einen guten Job im Weißen Haus zu machen. Allein auf das Versprechen zu setzen, im Falle einer demokratischen Mehrheit bei den Midterms im Kongress als Erstes ein bundesweites Gesetz für ein Recht auf Abtreibung zu verabschieden, werde für Biden nicht zum Erfolg führen, schreibt Washington-Korrespondentin Sofia Dreisbach. Eine Umfrage von Reuters und Ipsos hat ergeben, dass für ein Drittel der Befragten die wirtschaftliche Lage der Vereinigten Staaten das dringendste Problem sei. Die hohe Inflation und Benzinpreise zwischen 3 und 4 US-Dollar pro Gallone wiegen vor allem für Familien schwer. Der Präsident macht bei seinen Auftritten im Wahlkampf Russlands Krieg gegen die Ukraine und die heimischen Energieunternehmen für die hohen Preise verantwortlich.