Die 6. Stunde

Die ultrakonservative Revolution

Eine Kolumne von Martin Klingst
Die ultrakonservative Revolution Foto: Atlantik-Brücke

Wie man weiß, wären die Vereinigten Staaten von Amerika vor 160 Jahren fast auseinandergefallen. Weil sie an der Sklaverei festhielten, wollten sich die Südstaaten abspalten. Vier Jahre lang, von 1861 bis 1865, führten die Nord- und die Südstaaten gegeneinander einen blutigen Bürgerkrieg, in dem mindestens 680.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten ums Leben kamen.

Am Ende siegte der Norden über den Süden, der Abolitionismus über die Sklaverei, die Union über die Sezession. Eine wichtige Folge dieses Amerikanischen Bürgerkriegs war die Schaffung einer verbindenden nationalen Klammer, die Stärkung der Zentralmacht zulasten der föderalen Staaten.

Die Sklaverei wurde abgeschafft. Aber bis auch die Rassentrennung überall in Amerika endgültig verboten war, brauchte es weitere hundert Jahre. Erst ein Bundesgesetz, der Civil Rights Act von 1964, setzte dieser Segregation in allen 50 Einzelstaaten ein Ende – zumindest juristisch.

Doch heute, 58 Jahre später, droht eine neue Spaltung. Und dieses Mal wird das Auseinanderdriften der Bundesstaaten in fundamentalen Fragen des Zusammenlebens nicht juristisch aufgehalten, sondern sogar höchstrichterlich befeuert. Ernstzunehmende Stimmen warnen bereits vor einer erneuten Sezession, die womöglich wieder in einen Bürgerkrieg münden könnte.

Ernstzunehmende Stimmen warnen vor einer erneuten Sezession, die womöglich wieder in einen Bürgerkrieg münden könnte.

Aber auch ohne dieses Horrorszenario wird der Zusammenhalt Amerikas immer brüchiger. Rote und blaue, also republikanisch und demokratisch regierte Bundesstaaten eint kaum noch etwas. Die Mehrheit ihrer Bevölkerungen hat oft höchst unterschiedliche, gar gegensätzliche Lebensvorstellungen und scheint auf verschiedenen Planeten zu wohnen.

Im Zentrum des erbitterten Streits zwischen roten und blauen Bundesstaaten stehen aber heute, im 21. Jahrhundert, nicht Sklaverei oder Rassentrennung, sondern das Recht auf Abtreibung, auf gleichgeschlechtliche Ehe, auf Verhütungsmittel. Oder die Frage, ob per Gesetz verboten werden soll, im Schulunterricht auch die dunklen Kapitel der amerikanischen Geschichte zu beleuchten oder Kindern zu erklären, dass es unterschiedliche Lebensformen und nicht nur die Hetero-Ehe gibt.

Wie tief der ideologische, kulturelle – und rechtliche – Graben inzwischen rote und blaue Bundesstaaten trennt, zeigen die Folgen des kürzlich ergangenen Urteils des Obersten Gerichts zum Recht auf Abtreibung. Ein halbes Jahrhundert zuvor, 1973, hatte ebendieser Supreme Court – allerdings in anderer Besetzung – dem Chaos divergierender Abtreibungsregelungen zwischen Atlantik und Pazifik ein Ende gesetzt.

Wie tief der Graben inzwischen rote und blaue Bundesstaaten trennt, zeigen die Folgen des Urteils des Obersten Gerichts zum Recht auf Abtreibung.

In ihrer berühmten Entscheidung Roe vs. Wade verkündeten sieben der neun Richter, darunter auch solche, die von republikanischen Präsidenten nominiert worden waren: Gesetze, die eine Abtreibung verbieten, vorstoßen gegen die Verfassung; Schwangerschaftsabbrüche sind von der Verfassung geschützt und bis zur eigenständigen Lebensfähigkeit des Fötus gestattet. Nach medizinischen Erkenntnissen galt damals als letzter Zeitpunkt für eine erlaubte Abtreibung die 28. und später aufgrund neuer wissenschaftlicher Forschungen die 23. Schwangerschaftswoche.

Ein nahezu einschränkungsfreier Abbruch bis zum Ende des sechsten Monats – das war in der Tat sehr weitgehend, auch im internationalen Vergleich. Das Urteil blieb auch aus diesem Grund immer stark umstritten. Gleichwohl ist die überwiegende Mehrheit, sind laut Umfragen 68 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner nach wie vor für ein Recht auf Abtreibung.

Doch mit seiner neuen Entscheidung korrigierte der Supreme Court nicht etwa die sehr langen Abtreibungsfristen, was er durchaus hätte tun können. Nein, er zerriss das gesamte Urteil von 1973 förmlich in der Luft – und damit auch das Verfassungsrecht auf einen Schwangerschaftsabbruch. Ein nahezu einmaliger Vorgang, denn eigentlich gilt der Grundsatz, dass sich Gerichte an Präzedenzentscheidungen halten müssen.

Die – dank Donald Trump – inzwischen stramm konservative Mehrheit des Supreme Court befand: Amerikas Verfassung (sie stammt aus dem Jahre 1787 und ist damit fast zweieinhalb Jahrhunderte alt) erwähne nirgends ein Recht auf Abtreibung, ergo gebe es dieses auch nicht. Und was die Väter (!) der Verfassung nicht ausdrücklich hineingeschrieben hätten, dürfe auch nicht hineingelesen werden. Es sei darum nicht Aufgabe der Gerichte, sondern allein der gewählten Volksvertretungen, also in erster Linie der Parlamente der 50 Bundesstaaten, darüber zu befinden, ob sie ein Recht auf Abtreibung zulassen wollen oder nicht.

Demokratietheoretisch könnte man da durchaus sagen: Richtig so, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus! Sollen doch die Wähler und Wählerinnen – und nicht Richterinnen und Richter – entscheiden! So argumentieren auch so gut wie alle Republikaner und Republikanerinnen.

Doch Vorsicht, diese Begründung hat einen Pferdefuß: Die Entscheidung des Supreme Court, die Abtreibungsfrage in die Hände der einzelnen Bundesstaaten zu legen, steht nicht am Anfang des parlamentarischen Meinungsbildungsprozesses, sondern am Ende.

Die Entscheidung des Supreme Court, die Abtreibungsfrage in die Hände der Bundesstaaten zu legen, steht nicht am Anfang des parlamentarischen Meinungsbildungsprozesses, sondern am Ende.

Die Realität sieht nämlich so aus: Knapp zwanzig republikanisch dominierte Parlamente, von Alabama über Georgia und Oklahoma bis Michigan, hatten auf das Urteil des Obersten Gerichts nur gewartet und waren auf diesen Augenblick bestens vorbereitet. In ihren Schubladen lagen bereits fix und fertig ausformulierte Gesetzesentwürfe, allesamt harsche Abtreibungsverbote, von denen einige einen Schwangerschaftsabbruch nicht einmal im Falle einer Vergewaltigung oder eines Inzests zulassen. Diese Entwürfe werden nun in Windeseile Gesetz – und im Schatten des Supreme Court-Urteils manchmal sogar noch weiter verschärft.

Wie gesagt, das alles geschah nicht über Nacht, sondern war von langer Hand vorbereitet. Man muss dafür bis 2010 zurückgehen, in das Jahr, in dem Präsident Barack Obama und seine Demokratische Partei bei den Halbzeitwahlen krachend ihre parlamentarische Mehrheit verloren – und zwar nicht nur im Kongress zu Washington, sondern, was fast noch wichtiger war, ebenso in sehr vielen Bundesstaaten. Es war ein roter Tsunami, der größte politische Umschwung seit 70 Jahren. Amerika wurde fortan in weiten Teilen republikanisch regiert. Und die Republikaner wussten ihre neue Macht geschickt zu nutzen und begannen, Amerika Schritt für Schritt politisch von unten aufzurollen. Diese Strategie hatten sie sich bei den Demokraten abgeguckt.

Vorangetrieben wurde diese Revolution vor allem von der rechten Tea Party. Diese Graswurzelbewegung war ursprünglich allein mit dem Anspruch angetreten, mit Hilfe eines republikanischen Sieges den Staat zum Sparen zu zwingen. Doch die vielen neuen republikanischen Abgeordneten, die Ende 2010 von der roten Welle in Amerikas Rathäuser und Parlamente gespült wurden, merkten schnell, dass alles Sparen schnell Grenzen hat, vor allem wenn der Rotstift bei Ausgaben angesetzt wird, die besonders kostspielig, aber populär sind, wie etwa im Gesundheitsbereich, bei den Renten oder den Ausgaben für Schulen. Hier wünscht selbst eine stramm konservative Wählerschaft keine Kürzungen.

Doch um Enttäuschungen vorzubeugen und die vielen neuen Wählerinnen und Wähler bei der Stange zu halten, erweiterte die Tea Party rasch ihr inhaltliches Spektrum und verband sich mit rechten Bewegungen, denen vor allem kulturelle Themen und Identitätsfragen wichtig sind. Zum Beispiel Einwanderung und sichere Grenzen – und ein Anliegen, das besonders starke Emotionen schürt: Abtreibung.

Das Supreme Court-Urteil von 1973 war vielen Republikanerinnen und Republikanern stets ein Dorn im Auge. Mit den sich wandelnden politischen Mehrheitsverhältnissen sahen sie nun ihre Chance gekommen, dem liberalen Abtreibungsrecht den parlamentarischen Kampf anzusagen. 2011 wurden landauf, landab Hunderte von Gesetzesinitiativen zur Einschränkung von Schwangerschaftsabbrüchen auf die Tagesordnung gesetzt, so viele wie nie zuvor.

Doch noch stand Roe vs. Wade der konservativen Revolution im Weg, das Urteil war immer noch law of the land und setzte den republikanischen Vorstößen enge Grenzen. Dieses Hindernis hat der Supreme Court nun weggeräumt, jeder Bundesstaat darf ab sofort nach seiner Façon glücklich werden. Die Folge: Während etwa im liberalen New York oder in Kalifornien Abtreibungen weiterhin erlaubt sind, gibt es für Frauen in Alabama so gut wie keine Möglichkeit mehr für einen Schwangerschaftsabbruch.

Allerdings: Krass unterschiedliche Rechtslagen existierten in Amerika schon immer, zum Beispiel bei der Todesstrafe. Während sie etwa in Michigan schon seit dem 19. Jahrhundert verboten ist, wird sie in Texas besonders freigiebig exekutiert. Lange Zeit hatten einige rote Bundesstaaten in ihre Verfassung geschrieben, dass eine Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden darf, während blaue diese auch zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern erlaubten. Amerika war schon immer ein Land der großen Gegensätze.

Doch was derzeit geschieht, geht weiter und spaltet tiefer. In ihrem Eifer, Abtreibungen um jeden Preis zu verhindern, wollen manche rote Bundesstaaten es Frauen sogar unmöglich machen, für einen Schwangerschaftsabbruch in einen anderen Bundesstaat auszuweichen. Sie sinnen nach scharfer Bestrafung und wollen Denunziationen belohnen.

Es kann allerdings auch mal umgekehrt laufen. Zum Beispiel, wenn Wählerinnen und Wähler wie jetzt in Kansas noch mitentscheiden dürfen. Dieser mehrheitlich republikanische Bundesstaat hat seit Langem in seiner eigenen Verfassung ein Recht auf Abtreibung festgeschrieben. Darum initiierten Abtreibungsgegner ein Referendum mit dem Ziel, dieses Recht zu streichen – und unterlagen in dieser Woche vernichtend. Knapp 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Kansas wollen das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch behalten. Nun bleibt im roten Kansas ausnahmsweise erlaubt, was rote Nachbarstaaten wie Oklahoma, Missouri und Arkansas seit der Entscheidung des Obersten Gerichts fast ausnahmslos per Gesetz verboten haben.

Das neue Abtreibungsurteil des Obersten Gerichts, so scheint es, ist nur der Anfang eines Dammbruchs. Was womöglich sonst noch droht, lässt sich am Votum des Supreme Court-Richters Clarence Thomas ablesen. Der ultrakonservative Jurist empfiehlt seinem Gericht ziemlich unverhohlen, auch die früheren Urteile zum Verfassungsrecht auf gleichgeschlechtliche Ehe und zum Recht auf Verhütungsmittel zu kassieren und die Entscheidung über diese Fragen ebenfalls in die Hände der Parlamente der 50 Bundesstaaten zu legen.

Allgemein verbindliche Regeln schwinden, das Trennende wächst, es gibt kaum noch Brücken zwischen roten und blauen Staaten.

Allgemein verbindliche Regeln schwinden, das Trennende wächst, es gibt kaum noch Brücken zwischen roten und blauen Staaten. My way or the highway – dieses kompromisslose Motto gewinnt immer mehr Anhänger auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Erst kürzlich schrieben die Republikaner aus Texas in ihr neues Parteiprogramm, dass sie sich den Austritt ihres Bundesstaates aus den USA für den Fall vorbehalten, dass Washington (gemeint ist: eine wie derzeit von den Demokraten geführte Zentralregierung) Entscheidungen trifft, die sie als Texaner partout nicht mittragen können. Wenn das so weitergeht, könnte es in Zukunft zwei Amerikas geben, das blaue Küstenstaaten-Amerika und das rote Herzland-Amerika.

Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA. Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

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