Außen- und Sicherheitspolitik

Wann greift der Westen ein?

von Thomas Speckmann

Ob Ost-Ghuta, Aleppo oder die Ukraine: Demokratien tun sich schwer mit Interventionen.  Das hat gute Gründe – und ist kein „Verrat“ an ihren Werten.

Verrät der Westen sich selbst? Warum schaut er immer wieder einfach zu? Ost-Ghuta in diesen Tagen: Hunderte Tote, Tausende Verletzte. Vor gut einem Jahr der Fall Aleppos: Tausende tot, Zehntausende auf der Flucht. Krim und Ostukraine weiterhin unter russischer Kontrolle – ebenfalls Tausende tot, Zehntausende auf der Flucht. Hat der Westen aus der Geschichte nicht gelernt? Hat er sich nicht „Nie wieder!“ geschworen.

Doch eben dies könnte ein Missverständnis sein. Die Demokratien des Westens zeigen eine seltene Konstanz in Fragen von Krieg und Frieden. Sie sind sich nicht zuletzt in Syrien und in der Ukraine selbst treu geblieben in ihrem Verhalten. Ist die eigene Sicherheit nicht im engeren Sinne bedroht, greifen selbst interventionsfreudige Mächte des Westens wie Großbritannien, Frankreich oder die Vereinigten Staaten in der Regel nicht im großen Stil zu den Waffen. Eine Intervention mit Bodentruppen größerer Zahl bleibt dann meist aus. Allenfalls Spezialeinheiten, private Sicherheitsunternehmen, Luftschläge, Luftaufklärung, Waffenlieferungen, Ausbildung und Logistik für Alliierte vor Ort werden mobilisiert.

Dieses Verhalten hat Gründe. Sie sind nicht zuletzt in der Geschichte westlicher Militärinterventionen seit dem Ende des Kalten Krieges zu suchen. Ab den 90er-Jahren haben sich Demokratien des Westens immer wieder in einen fatalen Kreislauf ziehen lassen. Irgendwo auf der Welt kommt es zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen oder terroristischen Aktivitäten. Die Medien berichten. Die Öffentlichkeit ist empört. Die Forderung nach einer Intervention erschallt. Truppen werden in Marsch gesetzt. Spätestens einige Wochen nach ihrer Ankunft erlahmt das Interesse der Medien. Ihm folgt öffentliches Desinteresse. Parallel steigen die menschlichen Opfer und finanziellen Kosten des Einsatzes. Die Öffentlichkeit ist erneut empört, große Teile der Medien auch. Der Ruf nach einer Rückkehr der Soldaten wird lauter und lauter.

„Westliche Demokratien bevorzugen die Defensive, nicht die Offensive.“

Um diesen Kreislauf erst gar nicht in Gang kommen zu lassen, haben sich westliche Demokratien in der Regel genau überlegt, wann sie zu den Waffen griffen und warum. Zwar haben sie in der Weltgeschichte unzählige Kriege geführt. Aber sie bevorzugen die Defensive, nicht die Offensive. Demokratien tun sich allgemein schwer mit einer Außenpolitik, die präventives Handeln des Militärs vorsieht. Deshalb hat es in der Geschichte nur selten Fälle gegeben, in denen Demokratien als Erste zu den Waffen griffen. Frankreich tat dies in den Revolutionskriegen, um die gegnerischen Monarchien davon abzuhalten, die Revolution rückgängig zu machen. Großbritannien vernichtete 1801 die dänische Flotte in Kopenhagen, um im Ringen mit Napoleon die „bewaffnete Neutralität“ Dänemarks, Schwedens und Russlands zu brechen.

Paris und London waren es auch, die 1956 zusammen mit Israel eine Invasion Ägyptens begannen, um die Kontrolle über den Suezkanal zu erlangen. Ein zweites Mal attackierte Jerusalem 1967 seine arabischen Nachbarn, um einer befürchteten Offensive zuvorzukommen. Und schließlich besetzten die USA 2003 den Irak gemäß der präventiven Doktrin von George W. Bush. In diese Reihe lässt sich auch der internationale Militäreinsatz in Libyen 2011 aufnehmen, vor allem von Frankreich und Großbritannien initiiert zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung und zur Unterstützung der Aufständischen gegen das Gaddafi-Regime.

Doch all dies sind historische Ausnahmetaten. Denn Gesellschaften demokratischer Staaten unterstützen über längere Zeit meist nur Kriege zu ihrer direkten Verteidigung. Kriege hingegen, die eher den Charakter von offensiven Operationen oder Interventionen in fernen Weltgegenden haben, verlieren oftmals rasch die Unterstützung der demokratischen Heimatfront. Hierfür steht bereits das Scheitern der sizilischen Expedition Athens in den Jahren 415 bis 413 v. Chr. während des Peloponnesischen Krieges. Jahrhunderte später notierte der ehemalige amerikanische Generalstabschef und Außenminister Colin Powell angesichts des inneren Zerfalls der US-Armee in Vietnam und beunruhigt durch die Kluft, die zwischen Militär und Gesellschaft entstanden war: „Clausewitz’ wichtigste Lehre für Militärs war, dass der Soldat, bei allem Patriotismus, Mut und Können, lediglich ein Element einer Troika ist. Wenn nicht alle drei Pferde mitziehen, Militär, Regierung und Volk, muss das Unternehmen scheitern.“

Schon Franklin D. Roosevelt war es ab 1939 nicht gelungen, die Amerikaner von einem Kriegseintritt in Europa zu überzeugen, bis die USA in Pearl Harbor schließlich von Japan attackiert wurden. Doch selbst dann war es Hitler, der Amerika den Krieg erklärte – und nicht anders herum. Auf dem europäischen Schauplatz hatten sich auch die anderen westlichen Alliierten seit Kriegsbeginn überwiegend defensiv verhalten. Während das Gros der Wehrmacht in Polen gebunden war und die deutsche Westgrenze nur von schwachen Verbänden gesichert wurde, warteten Frankreich und Großbritannien weitgehend untätig den deutschen Angriff 1940 ab. Hier zeigte sich erneut, wie wenig demokratische Gesellschaften bereit sind, die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und humanitären Kosten von Waffengängen zu tragen, wenn sie nicht selbst angegriffen werden.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Sieger wie Verlierer vor dem Problem gestanden, ihre ökonomisch und sozial zertrümmerten Gesellschaften wieder aufbauen zu müssen. Keine der europäischen Kriegsparteien hatte den Krieg so beendet, wie sie in ihn eingetreten war: Das britische Realeinkommen lag zehn bis 20 Prozent unter dem zu Kriegsbeginn, das französische war um rund ein Viertel gesunken. Auch die für den Bestand von Demokratien so essenzielle Mittelschicht war in weiten Teilen Europas wirtschaftlich verarmt und politisch radikalisiert.

„Verarmung und Radikalisierung als Folgen eines Krieges lassen sich auch in den heutigen USA beobachten.“

Verarmung und Radikalisierung als Folgen eines Krieges, zumal eines selbst begonnenen, lassen sich auch in den heutigen USA beobachten. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat vorgerechnet, wie teuer seine Landsleute neben den Tausenden Gefallenen und Verwundeten auch ökonomisch der Irak-Krieg gekommen ist: Während den Feldzug zur Befreiung Kuwaits unter Bush senior zu 80 Prozent die Alliierten bezahlten, hat der amerikanische Steuerzahler seit 2003 Billionen Dollar für den Irak ausgegeben, ohne damit die US-Wirtschaft nachhaltig zu stimulieren. Und was für die kommenden Generationen noch fataler ist: Die Entmachtung Saddam Husseins wurde, anders als jeder andere Krieg in der amerikanischen Geschichte, allein durch Defizite finanziert. Dies hat nicht nur der Produktivität geschadet, weil für öffentliche Investitionen in Forschung, Bildung und Infrastruktur weniger Mittel übrig blieben. Dies hat auch dazu beigetragen, dass Donald Trump mit seinen Slogans „America First“ und „Make America Great Again“ derart erfolgreich sein konnte.

Nicht allein das amerikanische Beispiel zeigt: Werden Demokratien entgegen ihren Gewohnheiten dennoch militärisch offensiv, so bereuen sie dies meist wenig später. Frankreich und Großbritannien haben diese Erfahrung in der Suezkrise 1956 gemacht. Paris und London verloren endgültig ihre Weltmachtstellung. Wie heute die amerikanische Ökonomie und der Dollar gerieten damals die britische Wirtschaft und das Pfund unter Druck, verbunden mit einem Ansehensverlust nicht zuletzt in der Dritten Welt, wo nun vor allem die Reste der britischen und französischen Kolonialreiche ihre Unabhängigkeit anstrebten.

Ein Jahrzehnt später machte Israel eine ähnlich ernüchternde Erfahrung. Einige Monate vor dem Sechstagekrieg hatte Verteidigungsminister Mosche Dayan Vietnam besucht. Sein Resümee: „Die Amerikaner gewinnen hier alles – außer den Krieg.“ Im Juni 1967 konnte man über die Israelis das Gegenteil sagen: Das Einzige, was sie gewonnen hatten, war der Krieg. Mit dem Siedlungsbau in den besetzten Gebieten entstand neben der Flüchtlingsfrage ein weiteres politisches Problem, das den Nahen Osten bis heute nicht zur Ruhe kommen lässt. Für Israel gleicht der Sechstagekrieg einem verlorenen Sieg.

Um nicht in ähnliche Dilemmata zu geraten, haben die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten ihre Kriegführung modifiziert. Eine Lehre aus Vietnam war, dass mit einer Armee aus Wehrpflichtigen kein asymmetrischer Krieg für eine Demokratie zu gewinnen ist, zu groß ist die Gefahr einer Niederlage an der medialen Heimatfront. Daher haben die USA und die meisten anderen Nato-Staaten die Wehrpflicht abgeschafft und setzen auf eine Berufsarmee. Doch auch eine solche ist in den heutigen Kriegsformen nur bedingt einsetzbar. Denn die postheroischen Gesellschaften des Westens reagieren selbst auf geringe Verluste ihrer Berufssoldaten empfindlich.

Aus Tony Blairs umstrittener Entscheidung zur Teilnahme am Irak-Krieg zog Großbritannien Konsequenzen: Seit zehn Jahren darf ein britischer Premierminister nicht mehr alleine über Auslandseinsätze britischer Truppen entscheiden, sondern muss die Zustimmung des Parlaments einholen. Ausnahmen sind nur in „Notfällen“ und bei geheimen Operationen erlaubt.

In Frankreich wurde im September 2008 zum ersten Mal über den Afghanistan-Einsatz in der Nationalversammlung abgestimmt. Sie hatte nach der Verfassungsreform des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy über Militäroperationen zu entscheiden, die vier Monate überschreiten. Wie in Deutschland bedarf seitdem jede Verlängerung der parlamentarischen Zustimmung. Bis dahin hatte die Nationalversammlung kein Mitspracherecht, wenn es um Auslandseinsätze der Armee ging. Der Präsident konnte Truppenentsendungen eigenständig beschließen. Heute sieht der geänderte Artikel 35 vor, dass die Regierung spätestens drei Tage nach Beginn des Auslandseinsatzes das Parlament informiert und die Ziele darlegt.

„Gelangt eine Mehrheit zu der Überzeugung, dass Opfer nicht zu vermeiden sind, um das eigene Land zu schützen, dann haben sich Europas und Amerikas Demokratien letztlich als unbesiegbar erwiesen.“

Wie in den Fällen Vietnam, Afghanistan und Irak verhalten sich westliche Demokratien jedoch nur, wenn ihre Sicherheit nicht direkt bedroht ist. Gelangt hingegen eine gesellschaftliche wie politische Mehrheit zu der Überzeugung, dass Opfer menschlicher und materieller Art nicht zu vermeiden sind, um das eigene Land und seine Interessen zu schützen, dann haben sich Europas und Amerikas Demokratien letztlich als unbesiegbar erwiesen – allen gelegentlichen Niederlagen zum Trotz, und das vor 1945 wie auch danach. Für die Rückeroberung der von Argentinien besetzten Falklandinseln hat Großbritannien 1982 die schwersten Verluste der Royal Navy seit dem Zweiten Weltkrieg in Kauf genommen, für die Jahrzehnte dauernde Bezwingung der IRA tausend gefallene Soldaten.

Elementare Voraussetzung für eine derart große Opferbereitschaft war, dass die Mehrheit der britischen Bevölkerung hinter dem Einsatz ihres Militärs stand. Denn sie empfand beide Konflikte als von außen aufgezwungen und sah sich daher in einer Verteidigungsposition. Doch dies ist im Westen heute allenfalls im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus der Fall – nicht zuletzt aufgrund der eigenen Opfer durch Anschläge wie in New York, Washington, Madrid, London, Paris oder Berlin. Für Syrien und die Ukraine gilt dies deutlich weniger. Daher verrät sich der Westen dort auch nicht selbst. Er bleibt sich vielmehr treu – zumindest bislang.

Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

Dieser Text erschien ursprünglich in der WELT vom 7. März 2018.

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