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Warum wir TTIP jetzt brauchen

Warum wir TTIP jetzt brauchen

Die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft kann ein wichtiger Hebel werden, um die Integrationsfähigkeit der deutschen Politik und Gesellschaft in Zeiten der Flüchtlingsherausforderung entscheidend zu erhöhen – von Prof. Dr. Burkhard Schwenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Atlantik-Brücke

Nicht nur beim Blick auf TTIP, sondern auch in Sachen Flüchtlingskrise ist es an der Zeit, „groß“ zu denken. Wir können und müssen hier Beziehungen herstellen. Mir geht es zunächst um Szenarien, wenn wir über TTIP reden und darüber, wie es uns gelingen kann, Millionen von Flüchtlingen bei uns zu integrieren. Denn zu meiner großen Überraschung spielt in der öffentlichen Diskussion die Frage, ob und wie wir zukünftig schnell genug wirtschaftlich wachsen, um mit dieser Herausforderung fertig zu werden, kaum eine Rolle.

Das mag damit zusammen hängen, dass die deutsche Wirtschaft gut dasteht: Sie ist stark und global wettbewerbsfähig, die Wachstumsraten mit 1,7 Prozent für 2015 und prognostiziert 1,8 Prozent für 2016 sind vielversprechend, wir nähern uns dem 2-Prozent-Potentialwachstum. Unsere Arbeitsmärkte sind so gut wie schon lange nicht mehr, im Oktober waren nur noch 2,6 Millionen Menschen arbeitslos, der niedrigste Stand seit 24 Jahren. Allerdings ist keineswegs ausgemacht, dass es auch so bleiben wird. Allein eine nachhaltige wirtschaftliche Schwäche Chinas könnte dazu führen, dass sich unsere Wachstumsrate halbiert. Alle Spielräume, die wir uns erhoffen, wären damit dahin. Selbst eine stark wachsende Wirtschaft führt nicht zwangsläufig zu mehr Arbeitsplätzen. Die Digitalisierung bringt fundamentale Veränderungen der Arbeitswelt mit sich: Robotik und Prozessautomation ersetzen einfache Produktionstätigkeiten, moderne Algorithmen substituieren administrative Aufgaben.

Vier Szenarien erscheinen denkbar

Aus meiner Sicht bestimmen diese zwei Dimensionen – Wachstum und Digitalisierung – das wirtschaftliche und finanzielle Umfeld, mit dem wir uns in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen – und in dem TTIP uns helfen kann. Ich habe sie deswegen kombiniert und daraus vier Szenarien entwickelt: Die erste Dimension, das Wachstum, liegt auf der vertikalen Achse. Hier differenzieren wir danach, welche weltwirtschaftlichen Wachstumsimpulse für die deutsche Wirtschaft entstehen: Erholt sich China, wächst die USA weiter dynamisch, gewinnt die Binnenkonjunktur an Stärke? In diesem Fall können wir davon ausgehen, dass wir in Deutschland das 2-Prozent-Potentialwachstum erreichen. Oder: Fällt China doch dauerhaft zurück, entwickelt sich Amerika weniger dynamisch, kommt Europa wirtschaftlich nicht voran? In diesem Fall wird unser Wachstum schnell zurückgehen.

Die zweite Dimension ist die Geschwindigkeit der Digitalisierung. Hier differenzieren wir danach, wie schnell die Digitalisierung greift: Haben wir Zeit, uns an die digitale Wirtschaft anzupassen, unsere Unternehmen richtig aufzustellen und unsere Bildungssysteme darauf einzustellen? Oder kommt die Digitalisierung viel disruptiver, weil immer mehr und schneller neue Geschäftsmodelle entwickelt werden, die unser Wertschöpfungssystem in Frage stellen?

Folgen wir dieser Differenzierung, ergeben sich vier völlig unterschiedliche Welten, die auf uns zukommen könnten: „Heile Welt“ beschreibt mein Best Case Szenario. In diesem Fall setzen sich die positiven wirtschaftlichen Wachstumsimpulse durch. Die Digitalisierung schreitet zwar voran, aber unseren Unternehmen gelingt es, industrielle und digitale Kompetenz zu starken Wettbewerbsvorteilen zu verbinden. Wirtschaftswachstum und hohe Beschäftigung führen zu weiter steigenden Steuereinnahmen, die uns auch Spielraum zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geben. Industrie und Handwerk suchen Arbeitskräfte und sind bereit, in Aus- und Weiterbildung zu investieren. Eine schöne Welt!

Mein zweites Szenario heißt „Trügerische Sicherheit“. Wie im ersten Szenario verstetigt sich unser Wachstum, es gibt ausreichend finanzielle Spielräume. Aber in diesem Szenario läuft die Digitalisierung der Wirtschaft schneller als erwartet: neue Produktionsprozesse führen zu nicht gekannten Produktivitätsfortschritten, auf die unsere Unternehmen reagieren müssen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht zu verlieren. In einer sich schnell digitalisierenden Wirtschaft findet Wachstum ohne Beschäftigungsimpulse statt. Steigende Arbeitslosigkeit trifft auf immer mehr Flüchtlinge, Beschäftigungsperspektiven fehlen.

Mein drittes Szenario ist das Gegenstück zur „trügerischen Sicherheit“. Hier greift die Digitalisierung langsamer, aber unser Wirtschaftswachstum geht durch ausbleibende globale Impulse zurück. Unser guter Arbeitsmarkt bricht ein, weil unsere Unternehmen auf das wirtschaftliche Umfeld reagieren müssen und Kapazitäten kürzen werden. Zudem wird sich ein nachlassendes Wirtschaftswachstum auch in sinkenden Steuereinnahmen niederschlagen.

Aber es könnte noch schlimmer kommen, denn das vierte Szenario ist ein „Worst Case“-Szenario, weil wir mit dem Schlechten aus beiden Welten konfrontiert werden: Die Digitalisierung der Wirtschaft schreitet schnell voran, unsere Arbeitsmärkte verändern sich rasant und fundamental, und gleichzeitig bleibt das Wachstum aus. Das alte Schlagwort eines „industriellen Proletariats“ würde wahr und mit jedem Flüchtling nur noch verstärkt werden.

Moralisch, politisch und gesellschaftlich gefordert

Wir können keines dieser vier Szenarien ausschließen; weder die Geschwindigkeit der Digitalisierung noch die Verlässlichkeit eines nachhaltigen Wachstums lassen sich seriös vorhersagen. Auf diese ungewisse Situation treffen die Flüchtlinge – und wir sind moralisch, politisch und gesellschaftlich gefordert, diese Menschen bestmöglich zu integrieren. Keiner weiß, wie viele Flüchtlinge zu uns kommen – selbst für 2015 schwanken die Zahlen noch.

Die Szenarien verdeutlichen: Wir stehen in einer Welt mit Wirtschaftswachstum immer besser da als ohne. Das Voranschreiten der Digitalisierung liegt nicht in unserer Hand, wohl aber die Schaffung eines wachstumsorientierten Umfeldes. Aus dieser Sicht ist Flüchtlings- und Integrationspolitik immer auch Wirtschafts- und Wachstumspolitik. Wirtschaftspolitisch muss es darum gehen, die richtigen Bedingungen für Wachstum zu setzen. Gesellschaftspolitisch muss es gelingen, Wirtschaftswachstum wieder positiv zu belegen. Statt die Vorteile eines „qualitativen“ Wachstums zu diskutieren, brauchen wir einen Richtungswechsel: Wir müssen Wachstum wieder als wichtigen Beitrag zur Sicherung unseres Wohlstands etablieren.

Bessere Zukunftsaussichten

Hier kommt TTIP ins Spiel, denn TTIP bietet auch eine Chance auf das zusätzliche Wirtschaftswachstum, das wir brauchen, um auf unterschiedliche Szenarien vorbereitet zu sein. Ich möchte jetzt nicht so weit gehen, dass TTIP zur Bewältigung der Flüchtlingskrise notwendig ist – aber es ist ein Hebel, um sie in den nächsten Jahren besser zu bewältigen: mit mehr finanziellen Mitteln, mit einer positiveren Stimmung und mit besseren Zukunftsaussichten für Alt- und Neubürger. Fünf Punkte sind für mich dabei entscheidend:

Erstens: TTIP ist ein neues Kapitel in den transatlantischen Beziehungen. Denn im Kern geht es um die Schaffung eines gemeinsamen europäisch-amerikanischen Binnenmarktes. Das bedeutet: mehr Produktvielfalt und vor allem günstigere Produkte für Konsumenten und eine höhere Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im jeweils anderen Markt.

Zweitens: Durch diese Vorteile sind die makro-ökonomischen Fakten, die durch TTIP entstehen können, beeindruckend: ein einheitlicher Wirtschaftsraum mit 820 Millionen Konsumenten – mit Abstand der größte der Welt, er steht für fast 50 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung; die Chance auf eine signifikante Steigerung der bilateralen Handelsströme zwischen Europa und USA – die heute schon einen Wert von über 500 Milliarden Euro jährlich haben; die Chance, die fast fünf Millionen Arbeitsplätze, die in Europa durch die Exporte in die USA gesichert werden, dauerhaft zu sichern und zu steigern; und damit die Chance auf ein zusätzliches BIP-Potential von bis zu 0,5 Prozentpunkten allein für Europa. Deutschland steht für 40 Prozent der EU-Exporte in die USA und für 35 Prozent der Importe – wir werden damit einer der größten Nutznießer von TTIP sein.

Drittens: Die mit TTIP verbundene wirtschaftliche Größe ist auch daher wichtig, weil sie mit globaler Stärke und globalem Einfluss verbunden ist – auch dann, wenn es um Normen und Standards geht, von der Produktsicherheit bis hin zu Umweltschutzverordnungen. Wenn Entscheidungen dazu gefällt werden, dann muss unsere Stimme Gewicht haben.

Viertens: Das Problem von Größe und Einfluss hat Amerika gleichermaßen – aber Amerika hat Alternativen. Hillary Clinton hat in ihrer Zeit als US-Außenministerin das „Pacific Age“ ausgerufen – den Bedeutungsgewinn des Transpazifischen gegenüber dem Transatlantischen. Was auch nicht überrascht, denn die wirtschaftliche Dynamik stützt diese Sicht: Schon heute sind dreimal mehr Container auf den transpazifischen Routen unterwegs als auf den transatlantischen Strecken. Jetzt hat sich das „Pacific Age“ manifestiert: Unlängst haben zwölf Pazifik-Anrainerstaaten, vor allem die USA, Japan, Australien und Mexiko, TPP, die Trans-Pacific Partnership, ausverhandelt – das pazifische Gegenstück zu TTIP. Wir müssen also in Amerika für Europa werben. TTIP bietet dafür eine erstklassige Gelegenheit.

Fünftens: Wir leben in einer ungewissen Welt, immer mehr Krisen entstehen unerwartet, die Sicherheitspolitik spricht von einer „hybriden“ Sicherheitslage. Hierbei brauchen wir Orientierung und Partner, mit denen wir die gleichen Werte teilen. Es gibt keine andere Region in der Welt, mit der Europa mehr Werte und Erfahrungen teilt als mit den USA: liberale, freiheitliche und demokratische Werte, die in der übrigen Welt ihresgleichen suchen.

Deutschland tut sich schwer mit TTIP

Es gibt gute Gründe, die für TTIP sprechen: wirtschaftliche, geo- und sicherheitspolitische. Dennoch unterstützen nach der letzten Eurobarometer-Umfrage nur 31 Prozent der Deutschen TTIP. Warum tun wir uns in Deutschland so schwer mit der Idee eines transatlantischen Freihandelsabkommens? Auch hier möchte ich fünf Erklärungsversuche geben:

Erstens: Ursprünglich enthielt TTIP einige Elemente, die kontrovers diskutiert worden sind. Dazu gehört die Investor-State-Dispute-Settlement (ISDS), also die Möglichkeit für Unternehmen, souveräne Staaten vor unabhängigen Schiedsgerichten zu verklagen. Man kann darüber diskutieren, ob dieser Streit gerechtfertigt war – schließlich hat sich eine solche Regelung allein für Deutschland in mehr als 100 bilateralen Handelsabkommen bewährt –, aber ich gebe gerne zu, dass es Unbehagen bereiten kann, wenn solche Klagen möglich sind.

Zweitens: Ich erwähne dieses Beispiel auch deswegen, weil es symbolisch für ein echtes Problem steht: TTIP war nicht transparent genug. Die Verhandlungen mit den USA liefen lange Zeit hinter verschlossenen Türen, für uns Bürger gab es kaum Informationen.

Drittens: Auch das ist ein „Learning“ aus den Verhandlungen: Die anfänglichen pro-TTIP-Argumentationslinien waren zu einseitig. Für Ökonomen war es klar, dass mehr Handel zwischen gleichberechtigten Partnern auch mehr Wohlstand bringt. Aber makroökonomische Analysen zu den Vorteilen freien Handels überzeugen normale Bürger nicht.

Viertens: Die Ängste der Bürger wurden nicht ernst genug genommen. Im Ergebnis ist TTIP zu einem Blitzableiter für alles geworden, was bei uns gefühlt nicht stimmt: Unter dem Deckmantel des freien Handels fänden genmodifizierte Zutaten den Weg in unser Essen, die Großindustrie würde bevorzugt, die Demokratie würde erodieren.

Und fünftens: „Externe“ Effekte, vor allem der NSA-Skandal, haben das gegenseitige Vertrauen erschüttert. Wir erleben eine antiamerikanisch geprägte Periode, die zur weiteren Vertiefung anderer Vorurteile herhalten musste: Diskussionen zu den amerikanischen Klimastandards, zur US-Vorliebe für billige fossile Energien, zu „shale gas“ oder „fracking“.

Wichtiger als der Blick nach hinten ist jetzt, dass die Verhandlungsparteien einiges gelernt haben: TTIP ist nun Chefsache, EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström gibt den Verhandlungen mit den USA neuen Schwung. Die Inhalte, die Ergebnisse und die Teilnehmer der TTIP-Verhandlungen werden seit kurzem öffentlich gemacht. Zur umstrittenen Investor-Staat-Streitbeilegung wird ein neuer Entwurf verhandelt, der einen internationalen Handelsgerichtshof vorsieht. Es wurden weitreichende Garantien zum Schutz der Bürger in Europa ausgesprochen – und zwar in Übereinstimmung mit den USA.

Was noch fehlt, ist ein offensives und überzeugtes Eintreten für TTIP: Weil es unsere Wertegemeinschaft stärkt, weil diese Wertegemeinschaft angesichts der außen- und sicherheitspolitischen Ungewissheit immer wichtiger wird, weil TTIP unseren Einfluss auf globale Entwicklungen sichert – und weil es uns wirtschaftliche Vorteile bringt. Sollte ich mit meinen Szenarien auch nur annährend Recht haben, dann müssen wir die Prioritäten auf das Erschließen von Wachstumschancen setzen – auch mit Blick auf die Flüchtlingskrise.

Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Prof. Dr. Burkhard Schwenker am 25. November 2015 auf dem TTIP-Forum von Handelsblatt und BDI in Berlin gehalten hat.

Hier finden Sie den Vortrag von Prof. Dr. Burkhard Schwenker vom 25. November 2015

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