Gesellschaft

Forschungsstrategien gegen Pandemien

Forschungsstrategien gegen Pandemien Virtual Discussion with Wayne Koff, Anja Langenbucher, David Deißner, and Karl-Theodor zu Guttenberg (clockwise from upper left) Foto: Atlantik-Brücke

Die globale Corona-Epidemie führt die Notwendigkeit vor Augen, das menschliche Immunsystem besser zu verstehen. Darüber und über die Lehren der Krise sprachen Wayne Koff, CEO des Human Vaccines Project, und Anja Langenbucher, Director Europe der Bill & Melinda Gates Foundation, in einer Diskussion der Atlantik-Brücke mit Karl-Theodor zu Guttenberg.

Von Robin Fehrenbach

Wissenschaftler rechnen schon länger mit dem Ausbruch einer Pandemie. Um so gut wie möglich darauf vorbereitet zu sein, arbeiten verschiedene Initiativen weltweit an der Schnittstelle von Genomforschung, Systembiologie und künstlicher Intelligenz (A.I.). Eine dieser Initiativen, das Human Vaccines Project (HVP), rief Wayne Koff 2016 an der Harvard University ins Leben. Heute fungiert er als dessen President und Chief Executive Officer. Das HVP entwickelte sich von der HIV-Forschung kommend. Mit einem globalen Netzwerk aus Unternehmen und Wissenschaftseinrichtungen verfolgen Koff und seine Mitstreiter ein visionäres Ziel. „Langfristig soll das Human Vaccines Project mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Modell des menschlichen Immunsystems kreieren“, erläuterte Koff. Innerhalb eines Jahrzehnts, so Koffs Schätzung, würden Experten auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz ein solches Modell erschaffen können.

Langfristig soll das Human Vaccines Project mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Modell des menschlichen Immunsystems kreieren.Wayne Koff

Ein zweiter bedeutender Akteur in der weltweiten Bekämpfung von Krankheiten ist die Bill & Melinda Gates Foundation. Die Stiftung des Microsoft-Gründers und seiner Frau hatte ebenfalls lange vor dem Auftreten des Corona-Virus Sars-CoV-2 und der daraus resultierenden Lungenerkrankung Covid-19, die nach derzeitigen Erkenntnissen am 30. Dezember 2019 ihren Ursprung auf einem Wildtiermarkt in der chinesischen Metropole Wuhan nahm, vor dem Ausbruch einer weltweiten Epidemie gewarnt. Unter anderem ist die Stiftung darauf spezialisiert, die Entwicklung von Impfstoffen zu fördern. Die Gates Foundation unterstützt Koffs Arbeit im HVP. Anja Langenbucher, die Europa-Direktorin der Stiftung, hielt ein Plädoyer für multilaterale Zusammenarbeit. „Die Corona-Pandemie dient geradezu als Beispiel aus dem Lehrbuch, dass ein solch globales Problem nur global gelöst werden kann“, sagte sie in der von Karl-Theodor zu Guttenberg moderierten Diskussion. Der Bundesminister a.D. ist dem Human Vaccines Project verbunden.

Die Effektivität des menschlichen Abwehrsystems verstehen

Bei dem Bestreben, das menschliche Immunsystem zu entschlüsseln, sei die Corona-Pandemie sehr lehrreich gewesen, sagte Koff. Es stelle eine beispiellose wissenschaftliche Leistung dar, in weniger als einem Jahr eine Vakzine gegen das Corona-Virus entwickelt zu haben. Dennoch seien weiterhin viele Fragen unbeantwortet. Zum Beispiel: Warum sind Ältere besonders von dem Erreger betroffen? Oder: Warum vertragen manche Menschen die Impfung sehr gut? Warum haben andere wiederum Abwehrreaktionen? Es gebe ein „Universum an Rezeptoren“ in den Zellen des menschlichen Körpers und ein breites Spektrum an Reaktionen auf interne und externe Eindringlinge. Jeder der auf dem Planeten lebenden 7,7 Milliarden Menschen habe ein individuelles Immunsystem. Es existierten jedoch gemeinsame Regeln, nach denen das Immunsystem arbeitet. „Die am Abwehrsystem beteiligten Rezeptoren bilden gewissermaßen die Puzzleteile des A.I.-Modells, das wir erschaffen wollen“, erklärte Koff. Die Impfstoffe und die individuelle Reaktion des Immunsystems auf deren Verabreichung seien Werkzeuge dafür, die genaue Position und Funktion der Puzzleteile im Modell zu erhalten.

Vor einer Generation habe ein „transformativer Fortschritt“ darin bestanden, das menschliche Genom zu dekodieren. „Heute können wir mit Hilfe künstlicher Intelligenz die gewaltigen Datenmengen analysieren und interpretieren, so dass wir das Immunsystem verstehen, vor allem die Effektivität unseres Abwehrsystems“, erklärte Koff. Dank A.I. und maschinellem Lernen könne man bereits ein hohes Niveau an Sequenzierungen in Bezug auf verschiedene Erreger erreichen. Er sehe allerdings drei Hürden, die es zu überwinden gelte, um die Anstrengungen auf diesem Gebiet zu forcieren: das Bündeln der finanziellen Förderung – es werden Milliarden US-Dollar benötigt –, die Koordination internationaler Akteure und die Angleichung der verschiedenen globalen Initiativen. Die Mission des HVP sei jedoch zu erfüllen. Die Erforschung der genetischen Grundlagen des menschlichen Immunsystems wäre ein wissenschaftlicher Meilenstein.

Je besser die Sequenzierung vonstatten geht, desto genauere Diagnose- und Analysetools lassen sich entwickeln. Dies kommt dem Monitoring des Verlaufs einer Pandemie zugute.Anja Langenbucher

Dabei geht es bei Weitem nicht nur um Corona-Viren. Die Bekämpfung und Behandlung von Polio, Malaria und diversen Krebsarten ist ebenso auf Knotenpunkte der Spitzenforschung und Entwicklung, auf technologischen Fortschritt angewiesen. „Je besser die Sequenzierung vonstatten geht, desto genauere Diagnose- und Analysetools lassen sich entwickeln. Dies kommt dem Monitoring des Verlaufs einer Pandemie zugute“, betonte Langenbucher. Die bereits bekannten Mutationen des Corona-Virus verdeutlichten dies. Es sei von größter Bedeutung nachzuvollziehen, wie sich das Virus verbreitet. Deshalb spiele Geopolitik eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von sicheren und wirksamen Impfstoffen. Ohne den Austausch von Wissen und Daten über Kontinente hinweg und ohne das gemeinsame Nutzen von Forschungsanlagen, Produktionsstätten und Lagerkapazitäten seien die Erfolgsaussichten viel geringer. Insbesondere weniger entwickelte Nationen in Afrika müssten angemessen versorgt werden mit Schutzausrüstung, Testmaterialien – und am Ende mit Impfstoffen.

Moralischer Imperativ zu und ökonomische Interessen an globaler Zusammenarbeit

Der viel diskutierte Impfstoff-Nationalismus und die Verteilungsdebatten stellten eine große Herausforderung dar, betonte Langenbucher. Es gebe nicht nur einen moralischen Imperativ, die Impfstoffe nicht ausschließlich der eigenen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Vielmehr seien die ökonomischen Interessen daran, dass die Corona-Pandemie global gelöst wird, evident. „Wenn das Virus in einem weit entfernten Land mutiert, kommt es in einer globalisierten Welt wieder zu uns zurück“, warnte sie. Langenbucher empfahl, dass die G7 und die G20 den globalen Kampf gegen das Virus neben die Herausforderung des Klimawandels nach oben auf ihre Agenda setzen, was sich im „One Health Approach“ der führenden Industrienationen abzeichne. Die öffentliche Hand, der Privatsektor und NGOs sollten hier kooperieren, um politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Dynamik zu erzeugen.

Koff stimmte dieser Forderung zu. Es stelle sich nicht die Frage, ob ein neues Virus entsteht, sondern wann. Die Forschung wisse zwar, dass die Sterblichkeit bei Sars 10 Prozent beträgt und bei Mers 33 Prozent – jedoch nicht warum. „Ohne die grundlegenden Prinzipien des Immunsystems zu verstehen, sind wir äußerst verwundbar, was neu aufkommende Erreger angeht“, stellte Koff fest. Kurz vor der Veranstaltung wurde bekannt, dass sich weltweit bereits 100 Millionen Menschen mit dem Corona-Virus infiziert haben. Koff hält weitere „Hunderte Millionen“ an Infektionen mit Covid-19 für wahrscheinlich. „Also müssen wir doch alles dafür unternehmen, um vor die Kurve zu kommen“, betonte er.

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