Außen- und Sicherheitspolitik

Wir brauchen einander – und eine gemeinsame Agenda für die nächsten zehn Jahre

Wir brauchen einander – und eine gemeinsame Agenda für die nächsten zehn Jahre

Von Sigmar Gabriel, Bundesminister und Vizekanzler a.D., Vorsitzender der Atlantik-Brücke, und John B. Emerson, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland, Vorsitzender des American Council on Germany

Dieser Artikel ist in leicht gekürzter Form am 21.10.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. 

Der 30. Jahrestag der Deutschen Einheit hat uns auch daran erinnert, wie wichtig die deutsch-amerikanische Partnerschaft war und ist. Denn ohne das Vertrauen der Vereinigten Staaten wäre die Skepsis vieler unserer europäischen Nachbarn vermutlich nicht oder nur weit schwieriger zu überwinden gewesen. Wie in jeder Beziehung gab es Höhen und Tiefen.  Unsere enge Bindung beruht aber nicht nur auf Geschichte und Sentimentalität: Wir verfolgen gemeinsame Interessen und Ziele und stehen für dieselben Werte.

Unsere Verfassungen beruhen auf der Überzeugung, dass alle Menschen frei und gleich sind und dass dieses Recht auf Freiheit und Selbstverwirklichung unveräußerlich ist. Freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Presse- und Meinungsfreiheit dienen dem Schutz dieser Freiheit. 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, wird dieses freiheitliche Wertefundament der deutsch-amerikanischen Beziehungen von innen wie von außen immer mehr in Frage gestellt.

Globale Herausforderungen

Hinzu kommen globale Herausforderungen die kein Land alleine bewältigen kann. Besonders deutlich macht dies die globale COVID Pandemie. Sie hat auf schmerzliche Weise aufgezeigt, wie verletzlich unsere vernetzte und miteinander verflochtene Welt tatsächlich ist. Der globale Lockdown und die Verlangsamung der Weltwirtschaft wird alle ärmer machen.

Der Klimawandel verursacht Extremwetterereignisse und trägt zur Massenmigration bei. Global agierende Terrornetzwerke, Kriege und Konflikte betreffen vor allem die ärmsten Menschen unserer Welt. Und auch wenn die Menschheit noch nie so wohlhabend war wie heute, wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. Die Entwicklung neuer Technologien hat die Welt näher zusammenrücken lassen, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit entstehen lassen, sie zu trennen. Ein bröckelnder Atomwaffensperrvertrag hat die Gefahr eines weltweiten nuklearen Wettrüstens dramatisch erhöht.

Alle diese Herausforderungen haben gemein, dass sie sich nicht an nationalstaatliche Grenzen halten und nicht militärisch gelöst werden können.

Angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen ist das Fundament der gemeinsamen Werte und Überzeugungen der deutsch-amerikanische Partnerschaft noch nie so relevant wie heute: weil kein Staat sie auf sich allein gestellt  erfolgreich bewältigen kann; weil eine gemeinsame Antwort die Fähigkeit zu Partnerschaft und Allianzen voraussetzt. Und genau diese Fähigkeit unterscheidet uns von den Herausforderern unserer Werte. Sie kennen keine Partnerschaft, und ihre Welt ist eine Arena.

Eine gemeinsame Agenda für die nächsten zehn Jahre

Es wird jedoch nicht ausreichen, die transatlantische Erfolgsgeschichte zu beschwören. Um enger zusammenzurücken müssen wir vor allem wieder Vertrauen in uns selbst und in einander aufbauen und neue Zuversicht schöpfen. Und wir müssen eine mutige, zukunftsorientierte Agenda aufstellen.

Folgende Überlegungen sollten in diese Agenda einfließen:

  • Gemeinsame Entwicklung eines Wiederaufbauprogramms zur Bewältigung der Pandemiefolgen, insbesondere im Hinblick auf Schutzausrüstung, Impfstoffforschung und -herstellung
  • Neuausrichtung des Multilateralismus und zweckgerichtete Reform multilateraler Institutionen wie den Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation und der Weltgesundheitsorganisation, insbesondere um eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit zu verhindern
  • Kampf gegen den Klimawandel durch Förderung der Entwicklung grüner Technologien. Bei unseren gemeinsamen Bemühungen zum Schutz des Weltklimas sollten wir auch Fragen der Energiesicherheit berücksichtigen. Statt uns über einzelne Pipeline-Projekte zu streiten, sollten wir eine gemeinsame Strategie für künftige energiepolitische Fragen entwickeln: durch den Ausbau der Energieinfrastruktur einschließlich neuer LNG-Terminals in Europa; durch gemeinsame Forschungs- und Innovationsprojekte zum Ersatz fossiler Brennstoffe wie Erdgas durch „grünen“ Wasserstoff; oder durch die gemeinsame Unterstützung der Drei-Meere-Initiative in Europa.
  • Zusammenarbeit zur Schaffung eines wirtschaftlichen Gegengewichts zu China, ohne sich der Sprache eines „Kalten Krieges“ zu bedienen, sondern nach den Prinzipien des Wettbewerbs; Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft; Vereinbarung eines fairen Freihandelsabkommens mit dem afrikanischen Kontinent.
  • Konzeption einer transatlantischen Infrastrukturinitiative mit Afrika und dem eurasischen Raum als demokratische, faire und transparente Alternative zu Chinas „neuer Seidenstraße“.
  • Nutzung unserer Expertise und Innovationspotenzials, um die beste digitale Technologien zu entwickeln und sicherzustellen, dass in der nächsten Phase der technologischen Evolution ein ethischer Rahmen eingehalten wird. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es keine geeignete westliche Alternative zu Huawei gibt.
  • Erneuerung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes.
  • Stärkung der NATO als gemeinsames Verteidigungsbündnis ohne transatlantische und europäische Verteidigung gegeneinander auszuspielen. Wir sitzen im selben Boot.

Sicher – diese Aspekte können nicht mehr sein als eine Anregung für eine transatlantische Antwort auf die gemeinsamen Herausforderungen. Die Geschichte unserer Partnerschaft hat jedoch gezeigt wozu Menschen und Staaten fähig sind, wenn sie nur wollen und politisch zusammenarbeiten: In weniger als einer Generation entstand aus einer erbitterten Feindschaft eine verlässliche Partnerschaft. Daran sollten wir anknüpfen, wenn wir  gemeinsame Antworten für eine bessere Zukunft suchen.

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