Regionalgruppe Frankfurt

„Wir müssen vom hohen Ross runterkommen“

„Wir müssen vom hohen Ross runterkommen“ Dr. Ulrich Sante Foto: Helen Nicolai

Ulrich Sante, Botschafter a.D., spricht im Interview über Deutschlands Umgang mit der Geopolitik, Europas außen- und sicherheitspolitische Rolle und die Zukunft des EU-Binnenmarktes. Das Gespräch fand im Nachgang des Frankfurt Luncheons mit ihm unter dem Titel „Deutschlands Suche nach dem neuen ‚Ich‘ – wenn die Geopolitik an die Tür klopft“ statt.

Herr Sante, die liberale Weltordnung, die für zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer über Jahrzehnte hinweg als erstrebenswert galt, scheint seit geraumer Zeit an Strahlkraft einzubüßen. Worin könnten die Gründe für diese Entwicklung liegen und besteht aus Ihrer Sicht die Möglichkeit, diesen Trend noch umzukehren?

Der wesentliche Grund liegt wohl darin, dass die sogenannte liberale Weltordnung in der Wahrnehmung der Entwicklungshilfe- und Schwellenländer nicht die dauerhafte Verbesserung der Lebensstandards und die Beseitigung der endemischen Armut in ihren Ländern gebracht hat, die man sich von der Hinwendung zu einer immer vernetzteren Weltwirtschaft erhofft hat. Es herrscht unter ihnen der Eindruck, die „liberale Weltordnung“ diene im Wesentlichen der Bereicherung der ohnehin reichen Länder, denen, die man heute gerne pauschal und abwertend dem „Westen“ zuordnet.

China hat mit viel Geschick und nicht minder großem wirtschaftlichen und politischen Einsatz das wachsende Unbehagen gegen diesen vermeintlichen „Neo-Kolonialismus“ über Instrumente wie die Neue Seidenstraße, die Gruppe der BRICS-Staaten oder die Schaffung der New Development Bank als Gegenstück zur Weltbank mit dem Ziel zu kanalisieren und stigmatisieren versucht, über die Instrumentalisierung des „Globalen Südens“ die Vorherrschaft der USA in der Weltwirtschaft zu diskreditieren und sie schließlich zu brechen. Dieser Trend, der noch lange nicht seinen Zenit erreicht haben dürfte, gefährdet die Grundlagen unserer Wirtschaft, allein der Blick auf die Vorkommen an Rohstoffen, die für unsere Transitionswirtschaft essentiell sind, macht dies deutlich. Es geht um nicht weniger als die breit angelegte Rückgewinnung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit und durch nichts werden wir dies langfristig sicherer erreichen, als dass wir aufhören, einen Ideologiewechsel zur Bedingung unserer Zusammenarbeit zu machen, in die Länder dieses „Globalen Südens“ verstärkt investieren und dabei Mehrwert vor Ort schaffen und gemeinsam an der Überzeugung arbeiten, dass nicht die vernetzte Welt das Problem ist, sondern die Art und Weise, wie wir diese Welt bislang vernetzt haben.

„Wir müssen mit einem etwas realistischeren Blick auf die Welt unsere überlebenswichtigen Interessen wahrnehmen.“

Die Chancen, die uns eine multipolarere Welt mit ihren zunehmenden systemischen Auseinandersetzungen dazu liefert, stehen nicht grundsätzlich schlecht – wenn wir es dann eben richtig machen. Denn die Leidtragenden von Abgrenzungen und Abschottungen, mit denen wir zukünftig noch dramatischer zu tun haben dürften, werden nicht zuletzt auch ebendiese Entwicklungs- und Schwellenländer sein. So sehr sie versucht sein mögen, „blockfrei“ zu bleiben, so sehr werden sie erkennen, dass nur Lebenslinien zu verlässlichen Partnern und belastbare Regeln Fortschritt generieren und diesen auch sichern werden. Wir wiederum müssen vom hohen Ross runterkommen und mit einem etwas realistischeren Blick auf die Welt unsere überlebenswichtigen Interessen wahrnehmen. Das fällt nicht jedem leicht, aber die „Zeitenwende“ hat eben viele Facetten.

Die Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) steckt noch immer in den Kinderschuhen. Was muss die europäische Staatengemeinschaft vor dem Hintergrund einer möglichen zweiten Präsidentschaft Donald Trumps jetzt tun, um endlich als eigenständiger außen- und sicherheitspolitischer Akteur zu handeln?

Die mögliche Wiederwahl von Trump ist nicht der entscheidende Punkt. Sie würde allerdings die Frage dramatisch zuspitzen. Entscheidend ist, dass Russland mit dem Überfall auf die Ukraine die europäische Friedensordnung aufgekündigt hat und mit seinem wahllosen Morden von Zivilisten die nach dem 2. Weltkrieg mühsam wiederhergestellte kulturelle Würde Europas in Frage stellt. Diesen Frieden und diese Würde in Europa zu bewahren, ist unsere ureigenste eigene Aufgabe. Allzu lange haben wir geglaubt, wir können uns unter der schützenden Hand der USA wirtschaftlich bereichern und ihr getrost die weltweite Verteidigung der dazu dienlichen Grundordnung und die des Löwenanteils ihrer Kosten überlassen. Frieden und Freiheit in Europa seien ja schließlich auch in ihrem Interesse. Diese Zeiten sind endgültig vorbei und der Begriff der „Zeitenwende“ bringt das nicht annähernd dramatisch genug zum Ausdruck.

Was es vor jeder weiteren Überlegung über die notwendigen Konsequenzen allerdings zunächst braucht, ist ein gemeinsames Verständnis der EU und ihrer Mitgliedstaaten über die Qualität dieser Herausforderung und die Folgen einer unzureichenden Antwort. Es geht nicht darum, eine Kriegswirtschaft aufzubauen, wohl aber darum, über glaubwürdige militärische Fähigkeiten und die notwendigen Strukturen zu ihrem Einsatz auch ohne NATO-Unterstützung zu verfügen wie auch über den politischen Willen, sie auch einzusetzen, in Europa oder in andere Teilen der Welt, wenn dies zum Schutze der Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten nötig sein sollte.

„Der Druck auf die Europäische Union, für ihr eigenes Überleben zu sorgen, wird unerträglich wachsen.“

Wirtschaft und Sicherheit, Wohlstand und Frieden sind auf das Engste verknüpft. Wenn wir das verinnerlicht haben werden, dann werden wir auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik den entscheidenden Sprung nach vorne wagen können. Solange aber die GASP und die GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik; Anm. d. Red.) nationale Domänen bleiben, wird der Druck auf die Europäische Union, für ihr eigenes Überleben zu sorgen, unerträglich wachsen. Unter einem Trump II mehr als je zuvor.

Der internationale Einfluss Europas wird häufig über die ökonomische Bedeutung des Binnenmarktes definiert. In einer Welt im Umbruch, in der insbesondere die wirtschaftliche Bedeutung Asiens stark zunimmt, schwindet der Einfluss Europas kontinuierlich. Wie könnte sich die internationale Rolle Europas im 21. Jahrhundert dadurch verändern, und ist es für die Europäische Union überhaupt möglich, geopolitischen Einfluss zu erhalten?

Der EU-Binnenmarkt hat uns stark gemacht. Wir haben ihn mit Zähnen und Klauen verteidigt und damit Wohlstand und Stabilität in der wachsenden EU finanziert. Zugleich haben wir die Welt zum Freihandel aufgerufen und die Vorteile der Globalisierung genutzt.

Diese Ordnung, die die EU nach innen reich und nach außen einflussreich gemacht hat, steht unter kritischem Druck. Wachsender Nationalismus und Protektionismus verändern dramatisch die Bedingungen des Welthandels, der willkürliche Einsatz von Zöllen, Sanktionen oder die unilaterale Veränderung von Normen und Standards als Instrument zur Verteidigung oder Durchsetzung hegemonialer Ansprüche erschweren jede belastbare wirtschaftliche Entwicklung. Sie können Quellen von folgenschweren Missverständnissen und Fehlreaktionen sein.

In dieser neuen Welt permanenter systemischer Korrekturen ist die EU als Gemeinschaft von 27 weitgehend souveränen Staaten mit ihrer äußerst heterogenen Zuständigkeitsverteilung gegenüber China und den USA als die entscheidenden Wirtschaftsmächte einer monolithischen Welt allein schon strukturell in einem erheblichen Nachteil. Hinzu kommt ihre Handlungsschwäche im Bereich der GASP, die sie einer wichtigen Hebelfunktion beraubt, um ihren globalen Wirtschaftsinteressen den nötigen außen- und sicherheitspolitischen Nachdruck zu verleihen.

Dramatischer aber fällt wohl ins Gewicht, dass die EU im Bereich der digitalen Entwicklung der Welt, die ja mehr und mehr auch den Weltraum erfasst, derzeit nahezu hoffnungslos hinter China und den USA hinterherhinkt. Wenn wir uns in der EU weiter auf die Nivellierung von wirtschaftlichen Verhältnissen konzentrieren und uns immer höhere bürokratische Hürden für wirtschaftliches Handeln auferlegen, werden wir nicht nur weiter dem wirtschaftlichen Wachstum in der Welt hinterherhinken, sondern auch den Abstand zu den innovativen Volkswirtschaften nicht verkleinern.

Dr. Ulrich Sante ist seit August 2023 Vice Chairman der Landesbank Baden-Württemberg. Bei der LBBW ist er für das Auslandgeschäft zuständig. Zuvor war der aus einer Diplomatenfamilie stammende Sante als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Argentinien (2020-2023) und Singapur (2017-2020) sowie von 2014 bis 2017 als ständiger Vertreter Deutschlands bei der NATO in Brüssel aktiv.

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