Die Amerikaskeptiker

Die Schülerin

Von Martin Klingst

Foto: Katharina Draheim

Felicity Gurner ist 18 Jahre alt und Berlinerin. Im nächsten Jahr will sie an der zweisprachigen Nelson-Mandela-Schule ihr International Baccalaureate, eine Art internationales Abitur machen. Ihr Vater ist Engländer und betreibt in Berlin einen britischen Buchladen. Ihre Mutter hat viele Jahre für eine große transatlantische Organisation gearbeitet und musste dafür oft in die USA. Felicity Gurner war noch nie dort, möchte aber mal hin, falls es sich irgendwann  ergibt. Ihr vorrangiges Ziel sind die Vereinigten Staaten aber nicht. Die Gymnasiastin sagt: Für sie wie für einige in ihrem Freund*innenkreis hätte Amerika stark an Anziehungskraft eingebüßt. Schuld daran seien vor allem die von den USA geprägten sozialen Medien, die junge Menschen wie sie überall auf der Welt enorm beeinflussen würden. „Das Bild, das sie meiner Generation vermittelt, wie sie sein und leben sollte, lehne ich ab.“ Nach dem Abitur möchte Felicity Gurner Geschichte studieren und später als Grundschullehrerin arbeiten, sehr gerne auch im englischsprachigen Ausland, am liebsten in Nordengland, Schottland oder Irland.

Als ich zwölf oder 13 war, träumte ich und träumten viele meiner Freundinnen und Freunde davon, später als Austauschschüler*innen in die USA zu gehen. Wir waren riesige Amerikafans, die Vereinigten Staaten waren unser Sehnsuchtsort, dort zu leben – und wenn auch nur für ein Jahr – war unser Ziel. Doch für mich und für viele andere in meinem Alter stimmt das inzwischen nicht mehr, wir zweifeln und wir verzweifeln oft an diesem Amerika.

Aber was wussten wir als junge Teenies schon von diesem Land? Eigentlich nichts, jedenfalls nichts wirklich Echtes. Kaum jemand aus meinem engeren Freund*innenkreis war schon länger dort gewesen. Unser Wissen über die Vereinigten Staaten zogen wir aus den in Hollywood produzierten Serien und Sitcoms. Die Staffeln „Gossip Girls“ und „Gilmore Girls“ waren für uns noch vor ein paar Jahren der große Hit. Auch „The Big Bang Theory“ habe ich gerne geschaut.

Wow, dachte ich damals, muss dieses Amerika cool sein.

Wir wollten so sein wie die Hauptdarstellerinnen, so toll aussehen, wie die sogenannten It-Girls, wir wollten auch so ein aufregendes Party-Leben führen wir sie. Und natürlich schwärmten wir ebenso für die It-Boys, den Fußballstar an der amerikanischen High School, den man’s man mit seinem sonnengebräunten Körper und dem Sixpack-Bauch. Wow, dachte ich damals, muss dieses Amerika cool sein. Ich wollte also unbedingt an eine amerikanische Schule, unbedingt zu einem Football Game, unbedingt bei „Target“ shoppen gehen, in dieser amerikanischen Ladenkette, wo all It-Girls und It-Boys aus den TV-Serien einkaufen und es offenbar nichts gibt, was es nicht gibt.

Doch Corona ließ diesen Traum vom Austauschjahr jäh platzen. Meist macht man das während des elften Schuljahrs, aber da waren wir mitten im Lockdown und mussten zu Hause bleiben. Ich war mittlerweile älter geworden, und statt US-amerikanische Teenie-Serien zu schauen, aus denen ich herausgewachsen war, verbrachte ich meine Zeit mit den sozialen Medien. Man kann rückwirkend auch sagen: Ich geriet in die Fänge von Snapchat, Instagram, Youtube und TikTok. Auf Facebook war ich nie, Facebook ist für die meisten meiner Generation längst out, ist total old school.

Fast alle diese sozialen Medien wurden in den USA erfunden, und selbst wenn sie wie TikTok aus China stammen, sind sie durch und durch amerikanisch und verbreiten von morgens bis abends den American Way of Life – jedenfalls in punkto Konsumrausch, Mode, Aussehen, wie man seine Freizeit verbringt und sich in meiner Altersgruppe sozusagen ‚sozial-adäquat‘ verhält.

Bis vor Kurzem war ich ein absoluter Social-Media-Junkie, total abhängig. Stundenlang surfte und scrollte ich, ließ mich berieseln von irgendwelchen Influencer*innen, ließ mich beeindrucken von diesem künstlichen, unwirklichen Leben. Die Fragen, die ich mir stellte, lauteten: Welche Crême schmiere ich mir aufs Gesicht, welches Makeup benutze ich, welche Klamotte ziehe ich an, um so makellos auszusehen wie mein Vorbild auf TikTok? Welches Shampoo muss ich kaufen, damit sich auch mein Haar so schön wallt? Was muss ich tun, um dazuzugehören? Welchen Sport muss ich treiben, welche Vitamine schlucken, wie mich ernähren, um einen Waschbrettbauch zu bekommen, wie das gertenschlanke Model auf Youtube?

Permanent habe ich mich verglichen, habe Links an Freund*innen weitergeleitet, mich vernetzt mit bis dato völlig unbekannten Menschen. Solange ich in den Social Media unterwegs war, herumklickte, pausenlos Likes verschickte, die Anzahl von Followern zählte und unablässig nachschaute, was die anderen machen, was sie posten, wem sie folgen, an den Lippen hängen und weiterempfehlen, empfand ich mich total als ein soziales Wesen, als jemand, die mitten im Geschehen ist und weiß, was im Leben zählt und man tun sollte. Sobald ich mein Smartphone oder Tablet auch nur mal für eine halbe Stunde zur Seite legte, fühlte ich mich wie aus der Welt katapultiert und gelangweilt.

Die USA treiben dieses Konsum- und Leistungsverhalten auf die Spitze.

Was das mit Amerika zu tun hat? Sehr viel, meiner Meinung nach so gut wie alles. Klar, zu konkurrieren, beliebt und vornedran zu sein, ist, glaube ich, überall ganz normal, nicht nur in den USA. Aber es ist mein Eindruck und spiegelt wider, was ich in den amerikanischen TV-Serien und in den sozialen Medien beobachtet habe: Die USA treiben dieses Konsum- und Leistungsverhalten auf die Spitze. Mit den USA meine ich die Unternehmen, die Werbung, die Filmindustrie, die Bildungseinrichtungen, eigentlich mehr oder weniger die gesamte Gesellschaft. Meiner Ansicht nach ist das permanente sich Vergleichen, die ewige Anstrengung mitzuhalten und den anderen oder die andere möglichst zu übertrumpfen, in den Vereinigten Staaten systemimmanent, gehört zur DNA des Landes und vieler Menschen dort.

Nicht hinter dem Nachbarn zurückzustehen, um jeden Preis denselben white picket fence zu besitzen, mit allen anderen gleichzuziehen, erzeugt einen enormen Konformitätsdruck. Filme wie „Revolutionary Road“ oder „Keeping up with the Joneses“ haben sich zwar kritisch damit auseinandergesetzt, aber wirklich verändert hat sich nichts. Das ständige Streben nach einem schöneren Haus, einem größeren Auto, dem neuesten Iphone, dieser Inbegriff des Amerikanischen Traums, den jeder erzielen sollte, und diese grundamerikanische Überzeugung, man lebe, um zu arbeiten und nicht umgekehrt, ein solches Lebensmodell gefällt mir ganz und gar nicht.

Aber es geht hier nicht allein um mich und um meine Empfindung. Weil die Amerikaner ihr Modell nicht nur für sich leben, sondern es aller Welt zur Nachahmung empfehlen – und mehr noch: Weil sie ihren American Way of Life mit Hilfe der sozialen Medien aggressiv propagieren, bewerben und Dank ihrer wirtschaftlichen Macht bis in den letzten Winkel verbreiten, bin ich zu einer ziemlich entschiedenen Amerikaskeptikerin geworden. Ich würde sagen: zu einer kulturellen Amerikaskeptikerin.

Selbstverständlich gibt es Menschen, die gegen diesen Einfluss immun sind. Doch von dieser Suggestionskraft des American Dream kann man sich nur schlecht befreien. Und im Grunde soll sich auch niemand entziehen können, denn das Geschäftsmodell der sozialen Medien beruht ja ganz entscheidend darauf, die Nutzer dauerhaft zu beeinflussen, um sie zu einem bestimmten Konsumverhalten zu bewegen. Die Algorithmen werden gezielt so gesetzt, sie sollen Süchte erzeugen, der Teufelskreis ist gewollt.

Dieses Milliardengeschäft wäre ohne die amerikanische Kultur des ständigen Kaufens, ohne die super aggressive Werbung auf Tiktok, Youtube oder Facebook gar nicht möglich.

Gewaltige Macht übt zum Beispiel die über die sozialen Medien verbreitete sogenannte Fast Fashion aus. Die Produkte kommen nicht unbedingt aus den USA, sondern wie etwa bei den auf Fast Fashion spezialisierten Firmen Shein oder Yesstyle aus China oder anderen asiatischen Ländern. Aber dieses Milliardengeschäft wäre ohne die amerikanische Kultur des ständigen Kaufens, ohne die super aggressive Werbung auf Tiktok, Youtube oder Facebook gar nicht möglich. Bei Fast Fashion handelt es sich um die Produktion und den Verkauf von Billigstmode, um Kleidung zu Niedrigstpreisen mit ständig neuen Rabattaktionen. Die Ware kann man nur Online kaufen, eine Klamotte kostet oft nicht mehr als zwei bis fünf Euro. Also deckt man sich massenhaft damit ein und wechselt – das ist das Ziel von Fast Fashion – alle paar Monate die Garderobe mit der sich gezielt ständig ändernden Mode. Die chinesische Firma Shein nimmt oft täglich bis zu 500 neue Kleidungsstücke ins Sortiment. Das Unternehmen hat eine eigene Shopping-App, die eher wie ein soziales Netzwerk funktioniert: Auf Instagram stellen User stolz ihre Käufe vor, auf Youtube laufen Influencer damit durch die Stadt. Shein hat bei Instagram inzwischen mehr als 25 Millionen Follower. Natürlich hat die Kleidung oft schlechte Qualität, und ich möchte auch nicht wissen, für welche Hungerlöhne Asiat*innen sie produzieren müssen. Aber die Sachen sind halt billig, und wer sie trägt, gehört dazu, ist ein It-Girl oder It-Boy.

Und auch die sogenannten affiliate links sind eine US-amerikanische Idee, ich glaube, Amazon hat sie groß gemacht. Kurz erklärt: Wenn ich mir zum Beispiel ein Paar Ohrringe kaufe, davon ein Video mache und es samt einem Link zu dem Shop in den sozialen Medien poste, bekomme ich eine Vermittlungsprovision, wenn andere auf meinen Link klicken und ebenfalls in dem Shop kaufen.

Ich und etliche meiner Freundinnen und Freunde haben in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, welche Bilder vom Leben uns da eigentlich transportiert werden, welche Wertvorstellungen sie vermitteln und wie stark wir davon sowohl bewusst als auch unbewusst beeinflusst und manipuliert werden.

Ob das amerikanischer Imperialismus ist? Vielleicht, doch womöglich ist das ein zu hartes Wort. Aber selbstverständlich geht es um Hegemoniestreben, um die weltweite Expansion wirtschaftlicher und kultureller Macht der USA. Seit ich mich intensiver damit auseinandersetze, hat mein Amerikabild sehr, sehr tiefe Risse bekommen.

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