Sehnsuchtsort und Feindbild: Der deutsche Blick auf Amerika
Von Martin Klingst
Faszination für Amerika bei den einen, schroffe Ablehnung bei den anderen – es gibt wohl kaum ein anderes Land der Welt, an dem sich die Geister derart scheiden. Bücher für und wider die Vereinigten Staaten füllen Bibliotheken. Ich habe diese gegensätzlichen Haltungen am eigenen Leib erfahren. Als ich 1971 als Austauschschüler für ein Jahr in die USA ging, beneideten mich so manche in meinem Familien- und Freundeskreis für diesen Ausflug in die Neue Welt. Wie für so viele Menschen war auch für sie Amerika das Ziel ihrer Träume. Andere dagegen waren fassungslos, dass ich in dieses „furchtbare Land“ fahren konnte. Aus ihrer Sicht war Amerika die Nation, die ihre Ureinwohner ausgerottet hatte, Napalm-Bomben auf Vietnamesen warf, seine schwarze Bevölkerung diskriminierte und die Welt mit unnützem Zeug wie Coca-Cola, Hamburgern und Rock-Musik überflutete. Als ich rund 35 Jahre später als Auslandskorrespondent nach Washington zog, schlugen mir ähnlich widersprüchliche Meinungen entgegen.
Wann immer die Sprache auf die Vereinigten Staaten kommt, hat so gut wie jeder und jede Deutsche eine feste Meinung. Für einige ist Amerika Sehnsuchtsort, für andere Feindbild – und manchmal beides zugleich.
Seit Langem schon beschäftigt mich vor allem die Frage, warum sich so viele Menschen an den USA reiben. An jener Nation, in die Millionen Deutsche ausgewandert sind, die uns unter hohem eigenen Blutzoll vom Nationalsozialismus befreit und maßgeblich dafür gesorgt hat, dass der Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg Wohlstand und Demokratie erfahren durfte und sich das geteilte Land nach 45 Jahren wiedervereinen konnte.
Woher also rührt die ablehnende Haltung?
Natürlich gibt es dafür ein paar grundsätzliche Erklärungen, von denen gleich die Rede sein wird. Aber mich interessierten vor allem die persönlichen, die individuellen Beweggründe. Ich wollte wissen, in welchem Ausmaß Lebensläufe, Biografien die Einstellung zu Amerika prägen.
Es war Katharina Draheims Idee, dass ich dieser Frage näher auf den Grund gegangen bin. Die Kommunikationsleiterin der Atlantik-Brücke schlug Anfang des Jahres vor, dass ich eine Handvoll Deutsche aufsuche, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Vorbehalte gegenüber den USA haben. Dass ich sie interviewe, ihren ganz eigenen Blick auf Amerika festhalte und nüchtern schildere, warum sie so denken, wie sie denken. Ähnlich wie ich es in der Serie über Wähler und Wählerinnen von US-Präsident Donald Trump gemacht habe, die die Atlantik-Brücke im vergangenen Jahr auf ihrer Webseite veröffentlichte.
Wie damals geht es mir auch jetzt nicht darum, Menschen zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Ich möchte ihre Haltungen so ungeschminkt wie möglich darstellen, die Leserinnen und Leser sollen sich selbst ein Bild machen können. Darum durften die Protagonisten die Porträts auch vorab lesen, denn ich wollte sicherstellen, dass ich ihre Sicht der Dinge so unverfälscht wie möglich wiedergebe, sich keine Missverständnisse oder Fehler eingeschlichen haben.
Fünf Deutsche habe ich ausführlich befragt. Frauen wie Männer, West- wie Ostdeutsche, Junge wie Alte, Prominente wie völlig Unbekannte standen mir Rede und Antwort, einige sind noch nie in Amerika gewesen, andere hingegen schon mehrfach. Alle haben – aus unterschiedlichen Gründen – eine starke Meinung über das Land.
Anfangs wollte ich diese Serie „Die Antiamerikaner“ nennen. Doch im Laufe meiner Gespräche schien mir dieser Titel zu gefärbt, zu prätentiös. Denn „Antiamerikanismus“ ist Ausdruck einer prinzipiell feindlichen Gesinnung gegenüber dem amerikanischen Staat und seiner Bevölkerung, dem Gesellschaftssystem und Lebensstil. „Antiamerikanismus“ ist eine Ideologie, die keine Zwischentöne zulässt.
Ein Porträt solch absolutistischer Haltungen hätte ich einerseits zu platt gefunden. Andererseits: Niemand der hier Vorgestellten verdammt die USA – oder gar deren Menschen – in Bausch und Bogen, keiner ist ein lupenreiner Amerikafeind, keine eine Amerikahasserin. Alle nennen Seiten, die ihnen an den Vereinigten Staaten durchaus gefallen.
Aber die Fünf sind auch mehr als nur sporadische „Amerikakritiker“. Denn das wären ja so gut wie alle Menschen inklusive der Amerikaner, gibt die Weltmacht doch oft genug Anlass zu scharfer Missbilligung und gibt es sowieso kein Land, das nicht hin und wieder Unmut auslöst.
Was die in dieser Serie porträtierten Otto Schily und Petra Würdig, Rashid Alhindi, Felicity Gurner und Gregor Gysi auszeichnet und sie gemein haben, ist ein tiefsitzender Zweifel, ein über gelegentliche Amerikakritik hinausgehendes, oft durch die eigene Biografie geprägtes Misstrauen gegenüber den USA. Der eine hat grundsätzliche politische oder soziale, die andere kulturelle Vorbehalte. Weil die Fünf also weder eingefleischte „Antiamerikaner“ noch bloße flüchtige „Amerikakritiker“ sind, habe ich einen dritten Begriff für sie gewählt, der sie meiner Meinung nach treffender beschreibt: „Amerikaskeptiker“.
Der Argwohn gegenüber den USA ist vor allem ein Kind des 20. Jahrhunderts, die Folge zweier Weltkriege und des Kalten Krieges, eine Konsequenz der militärischen Vormachtrolle und des wachsenden globalen Einflusses Amerikas auf Wirtschaft, Kultur und Medien. Doch Faszination wie Ablehnung begleiten diese Nation schon seit ihrer Gründung, entstanden die Vereinigten Staaten von Amerika doch als ein neues politisches System in bewusster Abgrenzung zu den bereits existierenden Systemen in Europa. Einwanderer und Flüchtlinge des Alten Kontinents schufen im 18. Jahrhundert auf der anderen Seite des Atlantiks gezielt eine neue Ordnung.
Dieses einzigartige Labor der Welt zog Abermillionen Menschen an – und stieß zugleich etliche ab, nicht nur jene, denen die „Moderne“ nicht geheuer war, sondern auch einige, für die Amerika seine Verheißungen, sein Versprechen nicht einlöste, deren Hoffnungen auf eine bessere, gerechtere Welt, auf Freiheit und Wohlstand nicht erfüllt wurden. Sklaverei, religiöser und politischer Fanatismus sowie ein um sich greifender Ellenbogen-Kapitalismus ließ so manches Mal die Begeisterung für die Vereinigten Staaten in bittere Enttäuschung und Gegnerschaft umschlagen.
„Antiamerikanismus“ – fast nirgendwo sonst wird die grundsätzliche Missbilligung eines Landes, seiner Gesellschaft, seiner Kultur und Sprache mit einem einzigen Wort umschrieben. Ähnliche Zuordnungen zum Beispiel für Russland oder China sucht man vergeblich, die Worte „Antirussismus“ oder „Antichinaismus“ existieren nicht. Nach den von Deutschland verschuldeten Verheerungen des Zweiten Weltkriegs kursierte eine Zeitlang der Begriff „Deutschfeindlichkeit“ oder „Germanophobie“. Und natürlich gibt es den „Antisemitismus“, wobei sich dieser weniger auf ein Land als auf die negative Grundeinstellung gegenüber dem Judentum und allen Juden dieser Welt bezieht. Allerdings besteht zwischen Antiamerikanismus und Antisemitismus eine gewisse Verwandtschaft. Wann immer extreme Rechte oder Linke die USA dämonisieren, bedienen sie oft antisemitische Vorurteile: zum Beispiel Geldgier und Wucher, Finanz- und Weltherrschaft. „Amerikanismus – eine Weltgefahr“, hieß ein 1943 vom SS-Hauptamt „Weltanschauliche Erziehung“ herausgegebenes Propagandabuch.
Zurück zur Gegenwart: Das Auf und Ab der Stimmungen gegenüber den Vereinigten Staaten spiegelt sich stets auch in den Umfragen der Körber-Stifung und des Pew Research Centers wider und hängt meist von politischen Ereignissen ab und davon, wer gerade im Weißen Haus regiert. Als Präsident George W. Bush nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erst einen Krieg in Afghanistan und dann im Irak entfachte, fiel das Vertrauen der Deutschen in ihn von 51 auf 14 Prozent. Kaum war der besonders in Deutschland besonders beliebte Barack Obama im Amt, stieg es auf schwindelerregende 93 Prozent. (1)
Seinem Nachfolger, dem irrlichternden Donald Trump, hingegen vertraute nur jeder zehnte Deutschen, vier von fünf hielten die Beziehungen zu Amerika für schlecht, ein absoluter Tiefstand. (2)
US-Präsident Joe Biden wiederum findet laut einer brandaktuellen Pew-Umfrage Rückhalt bei sieben von zehn Deutschen. (3)
Und im Gegensatz zur Trump-Ära erhalten die USA auch als Land wieder weit bessere Noten. Ein Grund dafür ist laut Pew Washingtons Unterstützung der Ukraine. So haben derzeit sechs von zehn Deutschen eine durchaus positive Meinung von den Vereinigten Staaten (im Vergleich sogar neun von zehn Polen, aber nur rund vier von zehn Ungarn). (4)
Überhaupt waren die Ausschläge in der Regierungszeit von Donald Trump besonders dramatisch: 2018 sprach sich im Transatlantic Survey der Atlantik-Brücke eine große Mehrheit der Deutschen für eine stärkere Distanzierung gegenüber den Vereinigten Staaten aus (5), fast die Hälfte hielt China sogar für einen verlässlicheren Partner als die USA. Vier Jahre später, nach dem Sieg von Joe Biden, war es umgekehrt. 2021 sagten laut Körber-Stiftung und Pew nunmehr 67 Prozent der Deutschen, es sei wichtiger, gute Beziehungen zu den USA als zu China zu unterhalten. (6)
Gleichwohl: Noch 2018, nachdem Russland längst die Krim annektiert und in der Ostukraine einen verdeckten Krieg begonnen hatte, sprachen sich 69 Prozent der Befragten für eine engere Zusammenarbeit mit Russland, 67 Prozent mit China und nur 41 Prozent mit den USA aus. (7)
Selbst 2021, als sich die Gefahr eines russischen Einmarsches in der Ukraine bereits abzeichnete, wünschten sich insbesondere Deutsche aus den östlichen Bundesländern lieber Russland als die USA als internationalen Partner. Und obwohl inzwischen auch China als „systemischer Rivale“ galt, sahen im selben Jahr nur 26 Prozent der befragten Deutschen in der Volksrepublik und sogar nur 16 Prozent in Russland eine große Gefahr für westliche Werte. Diese Einschätzungen haben sich seither geändert. Die Mehrheit ist heute der Meinung, dass deutsche Interessen in Washington mitberücksichtigt werden und die USA zu Frieden und Stabilität in der Welt beitragen. Allerdings sagt eine überwältigende Mehrheit, acht von zehn Deutschen, dass sich die Vereinigten Staaten stets in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischen. Die Skepsis gegenüber Amerika bleibt. (8)
Soweit man zurückschauen kann: Wann immer es um die Vereinigten Staaten geht, stehen übergroße Erwartungen und zerstörte Hoffnungen, Hinwendung und Ablehnung, Zuneigung und Hass, Vertrauen und Misstrauen im ständigen Wechselspiel, häufig sind die Widersprüche sogar untrennbar miteinander verbunden. So antworten sogar manche jener Menschen, die aus Wut auf die Weltmacht das Sternenbanner verbrennen und gar „Tod den USA!“ rufen, oft auf die Frage, wohin sie am liebsten auswandern würden: „Amerika!“ Die Vereinigten Staaten sind halt seit ihrer Gründung eine riesige Projektionsfläche für Träume wie für Verteufelungen – sie sind ein Spiegelbild von uns selbst.
Hier lesen Sie die Porträts der fünf Amerikaskeptiker:
Der Parlamentarier: Gregor Gysi
Die Schülerin: Felicity Gurner
Der deutsch-palästinensische Filmemacher: Rashad Alhindi
Der ehemalige Bundesminister: Otto Schily
Fußnoten:
(1)
(2)
(3)
https://www.pewresearch.org/global/wp-content/uploads/sites/2/2023/06/PG_2023.06.27_US-image_REPORT.pdf
(4)
https://www.pewresearch.org/global/wp-content/uploads/sites/2/2023/06/PG_2023.06.27_US-image_REPORT.pdf
(5)
https://www.atlantik-bruecke.org/vertrauen-in-der-krise/
(6)
https://koerber-stiftung.de/site/assets/files/18574/2020-21_-_koerber_theberlinpulse_grafiken_deu_2020.pdf
(7)
https://koerber-stiftung.de/site/assets/files/18599/2019-20_-_koerber_theberlinpulse_grafiken_deu_2019.pdf
(8)
https://www.pewresearch.org/global/wp-content/uploads/sites/2/2023/06/PG_2023.06.27_US-image_REPORT.pdf