„Ich weigere mich, meinen Patriotismus aufzugeben“
Von Julia Friedlander
Nachdem ich fünfzehn Jahre in Washington in der US-Regierung gearbeitet und in der Zeit unter drei verschiedenen Präsidenten gedient hatte, war es mir eine Ehre, im Juni 2022 nach Berlin zu kommen, um dort die neue Geschäftsführerin der Atlantik-Brücke zu werden.
Meine Mentoren in Washington gestanden mir, dass sie dies für keinen traditionellen Karriereschritt hielten – zumindest nicht für jemanden, der so lange innerhalb des politischen Systems in Washington gearbeitet hatte. Aber letztendlich hielten sie meinen Wechsel über den Atlantik doch für den richtigen Schritt. Einer von ihnen sagte zu mir: Wie kann die transatlantische Beziehung auch im 21. Jahrhundert zu einer funktionalen Sache werden und nicht zu einem Relikt des Kalten Krieges?
Ich weiß nicht, was Sie über die Atlantik-Brücke bisher wissen. Ich will Ihnen kurz unsere Entstehungsgeschichte erzählen:
Die Gründer der Atlantik-Brücke waren deutsche Juden, die der Verfolgung durch die Nazis in die Vereinigten Staaten entkommen waren. Nach dem Krieg kehrten sie mit der Hoffnung zurück, das Land nach der Verwüstung durch den Krieg wieder aufzubauen. Sie waren keine sentimentalen Menschen, sie waren Realisten. Die Gründung der Atlantik-Brücke im Jahr 1952 war ein strategischer Schachzug.
Nur indem sie den damaligen US-Präsidenten Harry Truman überzeugten, den Marshallplan auf Westdeutschland auszuweiten und den NATO-Beitritt zu beschleunigen (und das alles nur wenige Jahre nach der Entstehung des Grundgesetzes und dem Aufstand in Ostdeutschland von 1953), konnte die Bundesrepublik zum Wachstum zurückkehren und das Risiko einer weiteren Besetzung durch die Sowjetunion vermeiden. Deutschland war bedingungslos besiegt, und die Vereinigten Staaten stiegen zur globalen Vormacht auf. Wie hätte das sonst funktionieren sollen? Auf keine andere Weise!
Natürlich ist diese Geschichte die Geschichte von Westdeutschland in der Nachkriegszeit. Doch weder Ost- noch Westdeutschland sollten in diesem Pulverfass, diesem sowjetisch-amerikanischen Standoff, gefangen bleiben. Mein Mann stammt aus West-Berlin, und im Alter von 11 Jahren, als die Mauer fiel, fuhr er mit dem Fahrrad zum Brandenburger Tor, geleitet von einem Mickey-Mouse-Radio, und machte Fotos von seiner Umgebung. Der erste Gedanke war: Die erste Bombe des Dritten Weltkriegs wird zumindest nicht mehr auf unsere Köpfe fallen.
Aber welche Eltern erlauben ihrem Kind, allein in eine solche Situation zu radeln? Natürlich diejenigen, die unter dem Schutz alliierter Soldaten (und Mickey Mouse) aufgewachsen waren. Wenn Amerika sicherstellen wollte, dass Deutschland sich nicht zu einem geopolitischen Sorgenkind entwickelt, dann musste das zwangsläufig auch für ganz Europa gelten: Es musste frei und in Frieden sein.
Mit anderen Worten: Deutschland wiedervereint und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag unterworfen. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA waren ein existenzielles Fundament der globalen Ordnung – bis sie es nicht mehr waren.
Amerikas aufgegebene Unipolarität
Jetzt ein schneller Sprung nach vorne zu meiner beruflichen Lebenszeit: Handelsgestützte Globalisierung, die Finanzkrise von 2008–10, die Katastrophe des Irakkriegs und das Desaster des neokonservativen Nation-Buildings in Afghanistan – und wir haben eine wirtschaftlich angespannte Bevölkerung sowie ein überdehntes amerikanisches Imperium.
Imperien müssen investieren, um ihren Status zu erhalten – und die USA steuerten gerne den größten Anteil an UN und NATO bei und schufen den Status der Entwicklungsländer in der WTO. Aber die USA waren auch schlecht darauf vorbereitet, als die Welt, die sie aufgebaut hatten, begann, sich zu behaupten. Die westlichen Nationen übersahen die Grundlagen des Handels: Offene Märkte steigern das Wohlergehen aller Beteiligten insgesamt, bewirken aber auch eine Konvergenz des Wohlstands. Für Amerika war Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zudem kein Aspirationsprojekt mehr, das den Rahmen zur Friedenserhaltung bot.
Als die USA begannen, relativen globalen Einfluss zu verlieren, unterzeichnete die EU den Vertrag von Lissabon. Durch Konsolidierung und regulatorische Macht gewann die EU an Einfluss. Die Beziehung zwischen den USA und Deutschland modernisierte sich, als die Märkte expandierten und integrierten. Deutschland und die Europäische Union im Allgemeinen waren nicht mehr das Thema der Außenpolitik und nicht mehr durch eine Mauer geteilt, die einen Atomkrieg hätte auslösen können. Deutschland und die Europäische Union insgesamt wurden sowohl zu einem Partner als auch zu einem Konkurrenten der Vereinigten Staaten.
Washington hat lange von Deutschland erwartet, dass es angesichts seines BIP als drittgrößte Wirtschaft der Welt Verantwortung in der globalen Sicherheit übernimmt – und man kann mit Fug und Recht sagen, dass Deutschland diese Botschaft lange Zeit überhört hat.
In meiner beruflichen Lebenszeit hat niemand in den Vereinigten Staaten versucht, „Deutschland klein zu halten“. Washington hat lange von Deutschland erwartet, dass es angesichts seines BIP als drittgrößte Wirtschaft der Welt Verantwortung in der globalen Sicherheit übernimmt – und man kann mit Fug und Recht sagen, dass Deutschland diese Botschaft lange Zeit überhört hat. Vielleicht hat man diese Macht unterschätzt oder inmitten der Ereignisse nicht erkannt, wie der Block an Macht und Einfluss gewann.
Die Europäische Union wandelte sich von einer Reihe grundlegender Industrieabkommen zwischen einer Handvoll westeuropäischer Staaten zu einer regulatorischen Marktmacht, die eine Bevölkerung von 450 Millionen umfasst – wiederum ein Zeichen der Normalisierung und des Fortschritts unter fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Dennoch, das führende „Narrativ“ der transatlantischen Welt fühlte sich in Deutschland eher wie eine Bierzelt-Freundschaft an als eine modernisierte Form der Zusammenarbeit unter Gleichen in einem globalen Wettbewerbsumfeld. Bequemerweise war alles, was nicht ins Bierzelt passte (wie Obamas „Pivot to Asia“ oder die Subventionen für erneuerbare Energien durch den Inflation Reduction Act), nicht „im Interesse des Transatlantismus“.
Dann betritt ein gewisser Donald Trump die Bühne. Er wirbelt alte Streitpunkte auf und fügt noch seine eigenen hausgemachten Probleme hinzu – und zerbricht damit das alte Narrativ der transatlantischen Partnerschaft endgültig. Vielleicht haben einige von Ihnen das Leak des inzwischen berüchtigten Signal-Chats vor einigen Monaten verfolgt. Abgesehen von der Preisgabe geheimer Informationen, die sie nicht hätten preisgeben dürfen, betrieben Trumps Kabinettmitglieder ausgiebiges Europa-Bashing. Nicht nur, weil man von einem Haufen unsicherer Regierungsmitarbeiter, die sich selbst aufwerten, indem sie andere niedermachen, nicht mehr erwarten sollte. Sondern auch, weil die Frage „Wo stehen die verdammten Europäer in dieser Sache?“ schon immer eine Frage war, die auch ich damals nie vollständig beantworten konnte, wenn sie mir von einem meiner Vorgesetzten gestellt wurde.
Indem die USA ihre Bündnispartner aufforderten, sich im politischen Gleichschritt mit Washington unter den amerikanischen Sicherheitsschirm zu begeben und amerikanische Ausrüstung zu kaufen, haben die USA nicht nur ihren Kuchen bekommen, sondern konnten ihn auch noch direkt bei der NATO essen.
Deutschland ist nicht alleine für diese Dynamik verantwortlich – das amerikanische System hat seine eigene Art der Selbsttäuschung betrieben. Indem die USA ihre Bündnispartner aufforderten, sich im politischen Gleichschritt mit Washington unter den amerikanischen Sicherheitsschirm zu begeben und amerikanische Ausrüstung zu kaufen, haben die USA nicht nur ihren Kuchen bekommen, sondern konnten ihn auch noch direkt bei der NATO essen.
Die Vereinbarung hat den USA über Jahrzehnte unzweifelhaft Dividenden eingebracht, von der erweiterten nuklearen Abschreckung bis hin zu günstigen Stationsrechten. Aber (vielleicht mit einigem Augenzwinkern) kann man auch sehen, wie Nullsummen-Denker wie Trump die NATO als Schutzgelderpressung betrachten, bei der andere ihre „Beiträge“ nicht fristgerecht bezahlt haben. Trump verkörpert eine einzigartige Form von Narzissmus und Kurzsichtigkeit, aber der Status quo ante ist auch nicht sinnvoll, da er die aktuelle Situation auch nicht abbildet. Entweder man erkauft sich als Amerika Gefolgschaft, indem man eine „Unterbezahlung“ akzeptiert, oder man schließt ein Bündnis unter Gleichen in einer multipolaren Welt. Durch all ihre Kritik an Europa haben die USA ihre eigene Doppelzüngigkeit offengelegt. Und dabei haben sie gezeigt, dass sie europäische Stärke brauchen.
Wirtschaftsmächte verschieben sich
Es ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination geografischer, finanzieller und politischer Faktoren, die es einem Land mit 84 Millionen Einwohnern ermöglichten, zur drittgrößten Wirtschaft der Welt zu werden und zu bleiben, insbesondere nach der globalen Finanzkrise und den darauffolgenden multiplen Schuldenkrisen in der Eurozone nur wenige Jahre später. Die Integration des europäischen Binnenmarktes baute Barrieren für Investitionen, Produktion und Transport ab, nahm schnell Länder des Warschauer Paktes auf und schuf die weltweit am stärksten integrierte supranationale Regierungsstruktur.
Und Deutschland erwarb einen riesigen Binnenmarkt ohne Handelsbarrieren und abgeschirmt vom Währungsrisiko – selbst Nicht-Euro-Währungen sind an den Euro gekoppelt.
Die Eurozonenkrise, ausgelöst durch übermäßige Ausgaben und Kredite, setzte der uneingeschränkten europäischen Marktexpansion ein abruptes Ende. Die Kreditvergabe an Unternehmen und Staaten trocknete aus, und Sparmaßnahmen schnitten tief in die Kaufkraft der Bürger. Aber Deutschland fand eine Lösung. Globale Märkte traten in eine Phase schneller Expansion ein und boten eine willkommene Plattform für westliche multinationale Unternehmen – deutsche und amerikanische Unternehmen waren gleichermaßen dankbar für das Entstehen der sogenannten BRICS-Staaten.
Die chinesische Nachfrage absorbierte Deutschlands Exportfreude genau im richtigen Moment, als Südeuropa in Bedrängnis war. Die Agenda 2010, Gerhard Schröders Wirtschaftsreformen, unterdrückte effektiv die Inlandslöhne, um die Produktion in Deutschland wettbewerbsfähig zu halten und die Auslagerung von Arbeitsplätzen zu verhindern. Ergänzende soziale Dienstleistungen in Deutschland wurden durch Steuereinnahmen aus der Expansion im Ausland gestützt – Bruttonationaleinkommen statt Bruttoinlandsprodukt.
Es war eine kluge, aber prekäre Konstellation von Umständen. Dieser goldene Moment strukturierte die deutsche Wirtschaft und ihre globalen Abhängigkeiten um, indem er die deutsche industrielle Entwicklung innerhalb weniger Jahre auf China ausrichtete. Aber dieser goldene Moment erwies sich als flüchtig. China hat seinen Status als Entwicklungsland eklatant zum Nachteil höher entwickelter Industrieländer missbraucht – vom Diebstahl geistigen Eigentums über erzwungene Joint Ventures bis hin zu staatlicher Subventionierung, die die gesamte globale Produktion verzerrt.
Aber nicht nur China ist in der Lage, unseren Handlungsspielraum einzuschränken. Miniatur-Handelsabkommen zwischen Schwellenländern und Entwicklungsregionen entstehen durch ein Netz bilateraler und trilateraler Ad-hoc-Vereinbarungen. Während dieses Verhalten mit der Zeit dazu beitragen könnte, neue internationale Handelsregeln zu erzwingen, sieht es im Moment so aus, als ob wachsende Volkswirtschaften sich weltweit neue Vorteile erarbeiten, während die Schwergewichte, die die Regeln entworfen haben, ihre eigene Geschichte überdenken.
Tatsächlich werden die Vereinigten Staaten wahrscheinlich viel weniger Weltpolizist spielen als in den vergangenen Jahrzehnten.
Wenn die anfängliche Euphorie der wirtschaftlichen Integration die erste Phase nach der Wiedervereinigung war, war die Eurozonenkrise und die Hinwendung zu globalen Märkten die zweite Phase. Die dritte ist schwer zu quantifizieren, weil wir uns mittendrin befinden. Chinas Hinwendung zu globalen Handelsungleichgewichten als nationale Wachstumsstrategie ist wie der deutsche Exportmotor auf Hochtouren. Hinzu kommen massive staatliche Subventionen für neue Technologien, die Störungen in den Lieferketten infolge der Pandemie und jetzt die unberechenbare, selbstzerstörerische Handelspolitik der Vereinigten Staaten – und schon sind wir Zeugen einer rasanten globalen Neuordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse.
Auf lange Sicht muss das nicht schlecht sein. Es ist nicht klar, ob die USA auf unbestimmte Zeit ein Viertel des globalen BIP aufrechterhalten müssen, um die Weltstabilität zu sichern – tatsächlich werden die Vereinigten Staaten wahrscheinlich viel weniger Weltpolizist spielen als in den vergangenen Jahrzehnten.
Das Beunruhigende daran ist, dass nicht klar ist, wohin uns diese Entwicklung führt. Die Trump-Administration ist selbst ein Symptom für ein Land, das nicht sicher ist, wie es seine Rolle im globalen Kräftegleichgewicht neu definieren soll, wenn sein eigener unipolarer Moment unwiderruflich vorbei ist. Wie oft schreien Amerikaner heutzutage? Selten findet man Führungspersönlichkeiten, die in das Nichts des Internets schreien, wenn sie wirklich das Gefühl haben, alles unter Kontrolle zu haben. Während die USA mit schwindender Macht in einem multipolaren Umfeld mit vielfältigen komparativen Vorteilen, die sich kreuz und quer über die Landkarte verteilen, zu kämpfen haben, gibt es klar eine große Chance für Deutschland.
Deutschlands Rolle
Die Friedensdividende in Europa ist längst vorbei. Nicht nur wegen Russlands brutalem Krieg, obwohl dieser die größte Sicherheitsherausforderung für Europa ist und sicherlich bleiben wird. Sie ist schon seit einiger Zeit in Teilen und Stücken vorbei. Russlands Invasion in Georgien im Jahr 2008, die gescheiterten Revolutionen des Arabischen Frühlings im Jahr 2012 und die regionale Instabilitäten, vom brutalen Bürgerkrieg Assads in Syrien über Erdogans Vorgehen gegen demokratische Institutionen in der Türkei bis hin zum Kampf um die Eindämmung der nuklearen Verbreitung im Iran – all dies zeigt, dass Europas Welt schon lange weit vom Frieden entfernt war.
Es gab schon seit einiger Zeit einen de facto Feuerring um Europa herum. In diesem Sinne war Olaf Scholz‘ Zeitenwende-Rede der lang erwartete Moment, von dem wir wussten, dass er kommen musste: dass die größte Nation Europas und die drittgrößte Wirtschaft der Welt nun eine neue Rolle spielen muss, da dieser Feuerring plötzlich viel näher rückt, als uns lieb ist.
Der Aufbau der größten stehenden Armee Europas war nicht das Ergebnis, das sich jemand gewünscht hat. Niemand wollte, dass so das Jahr 2025 aussieht. Deutschland legt seine normative Außenpolitik beiseite und wendet sich der Realpolitik zu – zurück zu den Grundlagen. Drei Jahre lang wurde die Unterstützung für die Ukraine oft mit dem Argument gerechtfertigt: Wir helfen dem Opfer, verteidigen die globale Demokratie und die regelbasierte Weltordnung. Das allein ist bewundernswert.
Denn die Realität ist: Wenn die Ukraine fällt, könnten auch ihre NATO-Nachbarn fallen. Dann könnte Russland das nächste Nachbarland angreifen.
Aber einen Schritt zurücktretend, müssen wir uns fragen: Sollte dieser Ansatz die Gesellschaft von ihrer moralischen Pflicht überzeugen oder sie vielmehr beruhigen, dass der Krieg ein Konzept und keine brutale Sache nur wenige Stunden entfernt war? Das normative Argument hielt den Krieg so weit wie möglich von ihnen fern.
Inzwischen argumentiert man in Berlin deutlich nüchterner: Natürlich verteidigt die Ukraine auch Deutschland. Denn die Realität ist: Wenn die Ukraine fällt, könnten auch ihre NATO-Nachbarn fallen. Dann könnte Russland das nächste Nachbarland angreifen.
Trumps Ansatz, internationale Beziehungen an den Meistbietenden zu verkaufen, hat Amerikas traditionelle Auffassung von seiner Verantwortung in Europa beendet. Amerika wird ein starker militärischer Partner Deutschlands in Europa bleiben und weiterhin den Kern der NATO bilden. Das hängt davon ab, dass Deutschland nicht nur ein paar Stunden östlich von hier eine figurative Grenze zwischen Krieg und Frieden sieht, sondern zeigt, dass Berlin der europäische Anführer und nicht ein amerikanischer Mitläufer sein wird. Das bedeutet eben auch, dass man mit Nachdruck sagen muss: Die Ukrainer verteidigen Deutschland gegen Russland, Punkt.
Eine neue Form des Nationalstolzes
Als Obama gewählt wurde, absolvierte ich gerade ein Aufbaustudium in Washington. Ich stand mit mehreren hunderttausend anderen bei Minustemperaturen stundenlang vor dem US-Kapitol, um ihn den Eid ablegen zu sehen. Eine eifrige Jugendorganisation verteilte US-Flaggen, und als ich von diesem sehr kalten Tag nach Hause zurückkehrte, hängte ich diese Flagge in mein Fenster. Als Trump gewählt wurde, bestand meine erste rebellische Handlung darin, diese Flagge im Keller zu verstauen – ich war nicht in patriotischer Stimmung und wollte nicht implizit Unterstützung für eine Regierung zeigen, die ich nicht an der Macht sehen wollte. Ich sah die Flagge vier Jahre lang nicht wieder, bis Bidens Wahlsieg verkündet wurde. Ich band das Ding hinten an mein Fahrrad und raste zum Weißen Haus – und ich schenkte sie allen entgegen, die mir über den Weg liefen.
Vorhersehbar war Trumps Wiederwahl im vergangenen Herbst eine große Enttäuschung, und die Turbulenzen der letzten Monate haben mich in Bezug auf die Entwicklung des Landes und die Art und Weise, wie es regiert werden wird, nicht gerade beruhigt. Aber ich zog eine andere Schlussfolgerung bezüglich meiner kleinen Flagge. Sie kam diesmal nicht zurück in den Keller, sie steht nun im Fenster meines Büros in Berlin. Ich weigere mich, meinen Patriotismus und meinen Glauben an mein Land einer Regierung abzutreten, die Kahlschlag als legitime Taktik betrachtet, rassistische Provokationen als Mittel zur Kontrolle einsetzt und einen oligarchischen Personenkult um den Präsidenten schafft. Die Flagge ist nicht das Eigentum von Nationalisten, sie haben kein Recht, sie für sich zu beanspruchen.
Ich selbst bin Studentin der deutschen Geschichte und bin – durch meinen Mann – Teil einer deutschen Familie. Ich weiß, dass das Zeigen der Flagge in Deutschland – zusammen mit anderen Symbolen des Nationalstolzes – politisch belastet und gesellschaftlich oft entmutigt wurde. Amerikanisches Verhalten als Blaupause zu nehmen, wäre selbstverständlich naiv und uninformiert. Aber das geopolitische Umfeld verlangt eine größere Teilhabe an der Struktur der deutschen und europäischen Gesellschaften – und, wenn Sie so wollen, eine zeitgemäße Form des Nationalstolzes.
In einem multipolaren globalen Umfeld wettbewerbsfähig zu sein, erfordert Investitionen in Bildung, öffentliche Infrastruktur, Verteidigung und Innovation. Sie sind unerlässlich für die Widerstandsfähigkeit unseres politischen Systems und um die Anziehungskraft eines sittenlosen Nationalismus zu vermeiden, der einfache Versionen einer komplizierten Geschichte wählt und Sündenböcke statt Substanz sucht.
Die neue Regierung und die Landesregierungen sind gut aufgestellt, um einen neuen Nationalstolz auf das, was Deutschland zu bieten hat, zu fördern und den liederlichen Nationalisten die Flagge nicht zu überlassen. Ihre Farben repräsentieren schließlich demokratische Prinzipien und liberale Werte von 1848 – und nicht den deutschen Nationalismus.
Fazit
Auch die USA hatten eine Friedensdividende. Das letzte Mal, dass die Regierung versuchte, drastische Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben vorzunehmen, war während der Clinton-Administration – die Kürzungen waren drastisch, wenn auch ohne den Zirkus-Auftritt von Elon Musk. Es gab ernste Gespräche (schwer vorstellbar heute), ob die USA die CIA noch brauchten. Schließlich war die Sowjetunion zusammengebrochen, und ehemalige nukleare Feinde schenkten die Friedensfahne. Wenn dieser Vorschlag Anfang der 1990er Jahre wirklich das Licht der Welt erblickt hätte oder der Überprüfung durch die heutige Medienlandschaft unterzogen worden wäre, hätte er sehr wohl viel öffentliche Unterstützung gefunden. Sowohl in den USA als auch in Deutschland wird es immer einen Reflex geben, sich zurückziehen zu wollen.
So viel Sie auch über die „große Machtkonkurrenz“ zwischen den USA und China lesen mögen: Die globale Wirtschaft und das Kräftegleichgewicht beginnen viel mehr wie ein Flickenteppich auszusehen als wie ein Standoff zwischen zwei rivalisierenden Blöcken – Deutschland ist nur dann mittendrin gefangen, wenn es sich dafür entscheidet.
In diesem Moment des Umbruchs sind Deutschland und Europa gut positioniert, um eine globale Führungsrolle zu übernehmen, während Amerika ins Hintertreffen gerät – und auf lange Sicht werden beide Nationen dankbar dafür sein.
Julia Friedlander hat diesen Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung im Thüringer Landtag zum Thema „Die Neuverhandlung der Weltordnung“ am Dienstag, den 10. Juni 2025, gehalten.