Die 6. Stunde

Eine bessere Flüchtlingspolitik auf beiden Seiten des Atlantiks

Eine Kolumne von Martin Klingst
Eine bessere Flüchtlingspolitik auf beiden Seiten des Atlantiks Foto: Atlantik-Brücke

Wie sich die Ereignisse an den Grenzen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika gleichen: Zigtausende von Geflüchteten und Migranten, die Einlass begehren; Zäune, Mauern und Soldaten, die sie aufhalten sollen; zynische Versuche von Regierungen, die Notleidenden für Erpressungen zu instrumentalisieren. Und wie reagieren die USA und die Mitgliedsstaaten der EU darauf, jene Länder, die das Ziel der Geflüchteten sind? Ziemlich plan- und kopflos.

Natürlich gibt es für die Lösung der vielfältigen Probleme keinen Königsweg. Humanitäre Verpflichtungen und nationale Belastbarkeit müssen immer wieder neu austariert werden. Kompromisse, bisweilen auch faule, sind unvermeidlich.

Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika haben in den vergangenen Flüchtlingsjahren ebenso bittere wie auch einige hoffnungsvolle Erfahrungen gemacht. Diese Erkenntnisse sollten sie austauschen, denn sie könnten durchaus voneinander lernen, wie sich eine vernünftige Flüchtlingspolitik planen und begrenzen ließe, ohne dass die Menschenrechte dabei über Bord geworfen werden.

Vier Thesen dazu.

Erstens: Dringend notwendig ist ein realistischer Blick auf die Welt. Denn er zeigt, dass die Zahl der Migranten und Geflüchteten weiter steigen wird – und damit auch die Verantwortung der reichen Industrienationen für eine Linderung der Not.

2021 zählte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen weltweit mehr als 82 Millionen Menschen, die wegen Verfolgung, Gewalt, Armut oder Umweltkatastrophen ihre Heimat verlassen mussten. Die meisten kamen bislang noch in anderen Ecken ihres eigenen Landes unter, sind also sogenannte Binnenvertriebene. Doch rund 26,4 Millionen Menschen überquerten auf ihrer Flucht Staatsgrenzen, die Hälfte von ihnen ist jünger als 18 Jahre.

Noch bleiben die meisten Geflüchteten auf ihrem Kontinent, aber in Zukunft werden weit mehr als bisher einen Zufluchtsort in Europa oder den Vereinigten Staaten suchen. Nicht nur weil Kriege ihr Leben gefährden, sondern weil Dürren und Überschwemmungen ihre Felder und Häuser vernichten und die Heimat unbewohnbar machen. Und schlicht, weil diese Menschen für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft wollen. Wer möchte ihnen dieses verdenken.

Der dramatische Klimawandel, an dem der industrialisierte Teil unserer gemeinsamen Welt die größte Schuld trägt, wird immer öfter zum Fluchtgrund werden. Sowohl für Menschen aus Asien und Subsahara-Afrika, die vor allem nach Europa fliehen, als auch für Süd- und Mittelamerikaner, die in die USA streben.

Nur ein Beispiel: Hunderttausende Guatemalteken, Honduraner und El Salvadorianer kehren ihren Ländern nicht nur deshalb den Rücken, weil sie staatliche Willkür, Drogenkriege und Korruption nicht länger ertragen, sondern weil ihre Felder verdorren. Rund zehn Millionen Menschen, fast ein Drittel der Bevölkerung dieser drei Länder, leben in dem seit Jahren von extremen Trockenzeiten und Regenfällen heimgesuchten Landstrich entlang der Pazifikküste.

Längst sprechen Juristen und Umweltorganisationen von Ökozid, von einer massenhaften, von Menschen verschuldeten kriminellen Zerstörung der Umwelt. Und längst ziehen Bewohner untergehender pazifischer Inseln darum vor Gericht und verlangen von Industrienationen Kompensation – und Aufnahme.

Zweitens: Niemand handelt derzeit so ruchlos wie der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Aber Erpressungsversuche mit dem Schicksal Geflüchteter hat es schon öfter gegeben. Und manchmal kommt man in der „Realpolitik“ nicht umhin, mit Autokraten und Despoten zu verhandeln – um seiner selbst willen und um das Elend der Geflüchteten zu lindern.

Kein Zweifel: In einer an Niedertracht nicht zu überbietenden Aktion hat der Despot Lukaschenko Zigtausende Geflüchtete aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan und weiteren Staaten nach Belarus fliegen und an die polnische Grenze karren lassen. Sein Ziel: Er will die ihm verhasste Europäische Union und insbesondere Deutschland erpressen, damit sie ihre Sanktionen gegen Belarus aufheben.

Die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel hat darum in den vergangenen Tagen mit Lukaschenko und dessen russischem Patron Putin telefoniert – und wurde dafür postwendend kritisiert. Ein Argument: Merkel habe damit – zumindest indirekt – die gefälschte Wahl Lukaschenkos anerkannt und so die Sanktionspolitik der EU konterkariert. Doch in der realen, oft unschönen Welt gehört es zum täglichen Geschäft, auch mit seinen Gegnern zu sprechen, so unliebsam diese auch sein mögen. Und die Lage ist derzeit brandgefährlich, denn Lukaschenkos Erpressungsversuch ist nur Teil eines größeren Machtspiels in der Region. Dazu zählen auch Moskaus Waffengeklirr und Truppenaufmärsche an der östlichen Grenze der Ukraine. Nicht wenige ernstzunehmende Stimmen in westlichen Hauptstädten befürchten, dass Russland eine militärische Intervention plant.

Auch wenn sich die Fälle nicht völlig vergleichen lassen: Die Instrumentalisierung von Geflüchteten macht Schule. Als 2015 und 2016 Hunderttausende von Menschen aus allen Gegenden der Welt ungehindert über die Türkei nach Griechenland übersetzten, wandten sich die EU und Deutschland händeringend an den türkischen Präsidenten Erdogan. Sie schlossen mit dem ausgewiesenen Autokraten sogar ein Flüchtlingsabkommen, dessen einzelne Vorschriften nie in die Tat umgesetzt wurden. Gewirkt hat der Deal trotzdem, insbesondere weil die EU der Türkei viele Milliarden Euro dafür bezahlt, dass sie die Geflüchteten aufhält. Jedes Mal, wenn Erdogan derzeit etwas von Brüssel oder Berlin will und hingehalten wird, droht er unverhohlen damit, das Flüchtlingstor nach Griechenland wieder zu öffnen. Ein schmutziges Geschäft? Ja, aber manchmal unvermeidbar.

Ein ähnlicher Kuhhandel existiert seit Jahren mit Marokko. Das nordafrikanische Königreich lässt sich von der EU und Spanien teuer dafür bezahlen, dass es Geflüchtete und Migranten aus Subsahara-Afrika davon abhält, die Zäune zu den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu überwinden. Denn andernfalls wären sie mitten in Nordafrika auf europäischem Boden und könnten um Flüchtlingsschutz bitten.

Und letztlich nutzt auch die polnische Regierung das Schicksal der Geflüchteten und Migranten zu eigenen Zwecken, als „Waffe“ gegen die ihrer Ansicht nach viel zu laxe und liberale Flüchtlingspolitik der EU. Warschau hat an der Grenze zu Belarus den Ausnahmezustand verhängt und erlaubt weder Journalisten noch Hilfsorganisationen, sich ein eigenes Bild von der dramatischen Lage zu machen.

Drittens: Grenzwälle haben Konjunktur. So unschön und unmenschlich sie sind, sie können Geflüchtete und Migranten durchaus eine Zeit lang aufhalten. Eine dauerhafte Lösung aber sind sie nicht.

Die Vereinigten Staaten von Amerika bauen an ihrer über 3000 Kilometer langen Grenze zu Mexiko einen bis zu sieben Meter hohen Metallzaun – und das nicht nur in den Jahren, in denen Donald Trump regierte. Die Türkei stellt Zäune an der Grenze zu Iran auf, Griechenland und Bulgarien an der Grenze zur Türkei.

In Ungarn verläuft ein rasiermesserscharfer Stacheldraht an der Grenze zu Serbien, in Polen und Litauen seit Neuestem an der Grenze zu Belarus. Slowenien hat sogar einen Zaun zum EU-Nachbarn Kroatien errichtet, um Geflüchtete und Migranten aufzuhalten. Spanien hat seine nordafrikanischen Besitzungen mit meterhohen Drahtzäunen gesichert. Und die britische Regierung hat Millionen in den Bau von Mauern und Drahtverhauen am Fährhafen und Tunneleingang im französischen Calais investiert. Sie will damit verhindern, dass Geflüchtete und Migranten sich von der EU auf den Weg nach Großbritannien machen.

Grenzzäune können zwar eine Verschnaufpause schaffen, aber Geflüchtete nicht auf Dauer aufhalten. Nach Großbritannien setzen sie derzeit zu Tausenden in Schlauchbooten über, und in die Vereinigten Staaten gelangen sie trotz des Zauns und aufgerüsteter Grenztrupps. Selbst Stacheldraht und 15.000 polnische Soldaten an der Grenze zu Belarus bilden keine undurchlässige Mauer.

Viertens: Die bisherige Flüchtlings- und Asylpolitik hat weitgehend versagt. Eine Allianz der Demokratien sollte darum dringend neue Wege beschreiten.

Die Gründe einer Flucht sind vielfältig, der enge Asylbegriff greift schon lange nicht mehr, das Recht auf Asyl ist hohl geworden. Notwendig wäre – neben gewaltigen Geldaufwendungen für Klimaschutz, fairere Handelsbedingungen und die Not im globalen Süden – darum folgende Einsicht: Kein Geflüchteter hat Anspruch auf ein bestimmtes Zielland. Schutz vor Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung findet er nicht nur in Europa oder den USA, sondern überall dort, wo er sicher vor seinen Verfolgern ist. Das kann auch in Nordafrika sein, in Mexiko oder in der Ukraine. Aufnahmebereite Staaten sollten dabei finanziell unterstützt werden.

Wer es gleichwohl bis an einen Grenzposten der Europäischen Union schafft, sollte bereits dort erfahren, ob ihm Flüchtlingsschutz zusteht oder nicht. Wer keinen Anspruch hat, darf auch nicht in die EU, dafür braucht die Union sichere Außengrenzen, notfalls auch Zäune.

Darüber hinaus – und mindestens ebenso wichtig: Die Allianz freiheitlich demokratischer Staaten sollte sich rechtlich verpflichten, Jahr für Jahr eine festgelegte – und nicht zu geringe – Anzahl von Menschen aus Flüchtlingslagern im Rahmen des sogenannten Resettlement-Programms der Vereinten Nationen aufzunehmen. Die USA und Kanada tun dies bereits, allerdings auf freiwilliger Basis und nicht rechtlich verbindlich. Diese Möglichkeit könnte durch umfangreiche Visaprogramme für Studierende und Arbeitssuchende ergänzt werden.

Dank fester Quoten hätten so Hunderttausende Geflüchteter eine realistische Hoffnung, in die EU oder die USA zu gelangen und müssten sich nicht mehr auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer, den Ärmelkanal oder durch die texanische Wüste begeben. Im Gegenzug bekämen die Aufnahmestaaten eine berechenbarere Flüchtlingspolitik.

Natürlich wären damit nicht alle Probleme aus der Welt geschafft. Aber das ewige Spannungsverhältnis zwischen humanitärer Verpflichtung und nationalen Belastungsgrenzen würde in ein besseres Gleichgewicht gebracht.

Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA.

Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

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