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Europäische Verteidigungskooperation nach der Friedensdividende

Europäische Verteidigungskooperation nach der Friedensdividende

Wie lassen sich national steigende Verteidigungsetats in der Europäischen Union und in der NATO in bestimmten Bereichen gemeinsam finanzieren? Dieser seit Längerem im Raum stehenden und äußerst wichtigen sicherheitspolitischen Frage sind ausgewählte Experten der Atlantik-Brücke in einer internen Gesprächsrunde nachgegangen. Die Diskussion war eingebettet in einen übergeordneten Austausch mit der Projektgruppe Weißbuch 2016 des Bundesministeriums der Verteidigung zur Herausforderung der Bundeswehr durch die hybride Kriegsführung. In diesem Herbst ist der Weißbuchprozess innerhalb seiner Partizipationsphase bei der Frage der europäischen Verteidigungskooperation angelangt. Die Teilnehmer gingen dabei unter der Moderation von Professor Dr. Burkhard Schwenker, Leiter der Arbeitsgruppe Außen- und Sicherheitspolitik der Atlantik-Brücke, von der Prämisse aus, dass die Beschaffung von Ausrüstung und Material schon jetzt und in den nächsten Jahren verstärkt nicht mehr nur Teil der regelmäßigen Modernisierung der Streitkräfte ist, sondern auch den wachsenden Bedrohungen in Europa – insbesondere durch den Ukraine-Konflikt – Rechnung trägt. Dies hat auf der einen Seite unabhängig von der anhaltenden Flüchtlingskrise in Europa unmittelbare finanzpolitische Konsequenzen, da der Verteidigungshaushalt steigt und dies im Gesamtetat entweder über neue Schulden, höhere Steuern oder Umschichten zwischen den einzelnen Haushaltsposten refinanziert werden muss. Auf der anderen Seite sehen sich die europäischen Volkswirtschaften erstmalig seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der Situation konfrontiert, dass die Friedensdividende aus der allgemeinen Abrüstung und dem Integrationsprozess der EU, von der alle Staaten profitiert haben, indem sie ihre Ausgaben anders einsetzen konnten, nicht mehr als gesichert betrachtet werden kann.

Der Blick in den aktuellen deutschen Haushaltsplan für Verteidigungspolitik offenbart, dass die Ausgaben um 538,8 Millionen Euro oder 1,7 Prozent von 32,4354 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 32,9742 Milliarden Euro im laufenden Jahr steigen sollen. Dabei verzeichnen nicht sämtliche Einzelposten einen Zuwachs, es ergibt sich ein differenziertes Bild. So sollen die Betriebsausgaben, darunter fallen Personalausgaben und Materialausgaben, um 289,9 Millionen Euro oder 1,5 Prozent steigen. Rüstungsintensive Ausgaben für Forschung, Entwicklung, Erprobung und militärische Beschaffungen dagegen sollen um 532,7 Millionen Euro abnehmen – ein Rückgang von 9,6 Prozent. Weitere investive Ausgaben für militärische Anlagen einschließlich der NATO-Infrastruktur sowie für den Erwerb von Geräten und IT sollen ebenfalls abnehmen, und zwar um 35,5 Millionen Euro bzw. 3,3 Prozent. Was die Versorgungsausgaben angeht, ist indes eine Zunahme von 339,4 Millionen Euro oder 6,6 Prozent geplant.

Budgets lange Zeit rückläufig

Der Vergleich mit anderen europäischen Staaten ergibt, dass zumindest bis vor wenigen Jahren nationale Verteidigungsbudgets in der Regel rückläufig waren. Im Durchschnitt lagen dem International Institute for Strategic Studies zufolge die Ausgaben 2014 um acht Prozent niedriger als noch im Jahr 2010. Das Center for Security Studies an der ETH Zürich hat zum Beispiel aber für Frankreich und das Vereinigte Königreich folgende gegensätzliche Entwicklung ermittelt: Zwischen 1990 und 2011 und bei einem konstanten US-Dollar-Kurs stiegen die Verteidigungsausgaben in Großbritannien, während sie in Frankreich abnahmen. Der britische Verteidigungsetat kletterte von 54,298 Milliarden US-Dollar im Jahr 1990 auf 57,875 Milliarden US-Dollar 2011. In Frankreich fiel der Verteidigungshaushalt von 65,774 Milliarden US-Dollar unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges auf 58,244 Milliarden US-Dollar im Jahr 2011.

Die Experten waren sich einig, dass die Verschiebung von konventioneller Kriegsführung hin zu hybrider Kriegsführung als Taktik von Aggressoren auch unmittelbare Folgen für die technische und materielle Ausrüstung der Bundeswehr hat. Der Bedarf an modernem Gerät und entsprechender Technik wird größer – und dies in einer kürzeren Zeitspanne als etwa in der Phase des Kalten Krieges. Deshalb wächst der Druck auf die politischen Entscheidungsträger in Deutschland wie im restlichen Europa, die steigende Nachfrage nach Finanzierungsmitteln in der Sicherheitspolitik nachhaltig und intelligent zu bedienen. Die These, den neuen Anforderungen in der Beschaffung militärischer Ausrüstung effektiv und effizient mit Hilfe einer gemeinsam geteilten europäischen Finanzierung gerecht zu werden, galt unter den Fachleuten als zutreffend.

Auf dem Weg zu „Pooling und Sharing“

Damit ist aber zwingend und automatisch die Bereitschaft verbunden, nationalstaatliche Souveränität im Verteidigungssektor zu einem bestimmten Grad aufzugeben. Wenn die europäisierte Finanzierung gelingt, kann sie indes dazu führen, dass die Bundeswehr und die anderen europäischen Streitkräfte jene Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, die sie beispielsweise bis 1989 besaßen. Denn in der Zwischenzeit haben sich in den nationalen Rüstungspolitiken Pfadabhängigkeiten in den Bereichen der Planung, der Beschaffung und der Struktur manifestiert, die eine paneuropäische verteidigungsindustrielle Basis noch verhindern. Gleichzeitig globalisiert sich die in Europa ansässige leistungsfähige Rüstungsindustrie, während Drittanbieter aus dem Ausland ihrerseits versuchen, auf den europäischen Markt zu drängen. So droht der Verteidigungssektor in Europa zu zersplittern. Die Teilnehmer forderten, dieses Szenario politisch zu verhindern und als Ziel dagegen das „Pooling und Sharing“-Konzept anzusteuern. Dabei geht es im Kern für die EU- und europäischen NATO-Staaten darum, gemeinsam neue europäische und transatlantische Verteidigungsressourcen aufzubauen und diese dann in der Nutzung untereinander zu teilen. Die Vorteile liegen in der besseren Koordination der rüstungstechnisch aufeinander abgestimmten Armeen und im Ernstfall in der höheren Einsatzfähigkeit und Schlagkraft aufgrund von neu erzielten Größenvorteilen.

Die grundlegende Erkenntnis, dass in der Sicherheitspolitik rein nationale Lösungen nicht mehr möglich sind und vielmehr eine wachsende Flexibilisierung vonnöten ist, wird längst geteilt. In diesem Kontext machten die Teilnehmer positive Ansätze einer militärischen Integration der europäischen Kooperation aus. Aus ihrer Sicht stimmt die gemeinsam beschrittene Richtung beim Aufbau der NATO-Speerspitze ebenso wie bei der Zusammenarbeit mit den Niederlanden, deren 11. Luftbewegliche Brigade seit Juni 2014 dem Kommando der Division Schnelle Kräfte der Bundeswehr unterstellt ist. Zudem steht eine der acht deutschen Heeresbrigaden unter europäischer Kontrolle. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die EU- und NATO-Staaten damit begonnen haben, sich der Herausforderung des „Pooling und Sharing“-Konzepts zu stellen. Die Teilnehmer verständigten sich darüber hinaus auf ein wesentliches Argument für eine umfassende finanzielle Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Dem Weißbuch wird es nichts nützen, den militärischen Ernstfall in jeder vorstellbaren Form zu definieren – aber es kann und darf auf der anderen Seite auch keinen Ernstfall ausschließen. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, mit einer aufeinander abgestimmten, gemeinsam finanzierten und breit und hochwertig ausgestatteten europäischen Rüstungskooperation auf Angriffe adäquat reagieren zu können.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird es unabdingbar sein, diese Diskussion aus der strategischen Gemeinschaft in eine Debatte für die Bevölkerungen Europas zu überführen. Die Experten betonten, dass diese Auseinandersetzung ansprechen sollte, was Führungsrolle und Verantwortungsgefühl für die internationale Sicherheitspolitik konkret bedeuten und vor allem was es heißt, ein aktives NATO-Mitglied zu sein. Die Entscheidungsträger der Politik werden mit der Maxime „Führen aus der Mitte“ nicht bei den Bürgern durchdringen, da dieser Anspruch zu unpräzise formuliert ist und dafür steht, sich ein wenig zu verstecken und zu sehr auf den militärischen Schutz der US-Amerikaner auf europäischem Boden zu verlassen. Vielmehr sollten die Verantwortlichen den Europäern immer wieder klarmachen, dass die EU und die NATO in der Ostukraine zwar ein ernst zu nehmendes Sicherheitsproblem an ihrer Peripherie haben, aber dass die Mehrzahl der europäischen Staaten gleichzeitig auch gegenüber der transatlantischen Verteidigungsallianz eine Bündnissolidarität eingegangen ist und auszuüben hat. Die Krise in der Ukraine stellt auch deshalb zwangsläufig ein Problem für die westlichen Verbündeten dar, weil Bedrohungen der Sicherheit stets auch nicht zu unterschätzende wirtschaftliche und technische Dimensionen mit sich bringen.

Link zur Seite des Weißbuchprozesses

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