Interviewreihe Zukunft der NATO

Uneinigkeit bei fairer transatlantischer Lastenteilung

Uneinigkeit bei fairer transatlantischer Lastenteilung Außenansicht auf das neue NATO-Hauptquartier in Brüssel. Foto: NATO

Von Robin Fehrenbach

Teil XVI und Ende unserer Serie: Die Zukunft der NATO wird wesentlich davon abhängen, wie die Vereinigten Staaten und Europa die gemeinsamen sicherheitspolitischen Aufgaben erfüllen. Dabei gehen die Ansichten von Amerikanern und Europäern schon darüber auseinander, wie ausgewogenes Burdensharing zu definieren ist. In Europa gibt es eine Reihe kritischer Einwände dagegen, die faire transatlantische Lastenteilung nur auf das beim NATO-Gipfel in Wales vereinbarte Ziel zu beschränken, dass jedes Mitglied 2 Prozent seines BIP für Verteidigung ausgibt. Ein Überblick über die aktuelle Debattenlage.

Wird die transatlantische Lastenteilung in der Außen- und Sicherheitspolitik erst in dem Moment fair sein, wenn alle Mitglieder der NATO das 2-Prozent-Ziel erfüllen? Diese häufig in den USA vorherrschende Grundannahme vertritt zum Beispiel der amerikanische Verteidigungsminister James Mattis. „If your nations do not want to see America moderate its commitment to this alliance, each of your capitals needs to show support for our common defense“, sagte der Pentagon-Chef zu seinen europäischen Amtskollegen in Brüssel im Februar 2017.

Divergierende Ansichten über einen Schlüsselbegriff

Die faire transatlantische Lastenteilung ist zwar im Sprachgebrauch von Amerikanern und Europäern einer der zentralen Begriffe für die sicherheitspolitische Kooperation zwischen den Bündnispartnern. Doch die Ansichten, was genau darunter zu verstehen ist, gehen dies- und jenseits des Atlantiks weit auseinander. Im Gegensatz zu ihren amerikanischen Partnern heben europäische Sicherheitsexperten neben dem 2-Prozent-Ziel der NATO eine Reihe von weiteren Bestandteilen der Lastenteilung – vielfältige verteidigungspolitische Aufgaben, diplomatische Initiativen und entwicklungspolitisches Engagement – hervor. Dabei setzen sie sich zunächst kritisch mit der Sinnhaftigkeit des 2-Prozent-Ziels als solchem auseinander. Simon Lunn und Nicholas Williams, Senior Associate Fellows des European Leadership Network, kritisieren in einem Beitrag vom Juni 2017 die Logik der NATO-Vorgabe für Verteidigungsausgaben von zwei Prozent. Das Beharren auf ein eng abgestecktes und willkürliches Ziel, das mit der gesamten Wirtschaftsleistung eines Landes verbunden ist, als alleiniger Maßstab für Solidarität unter Alliierten und somit für Lastenteilung sei „irrational“. Des Weiteren werde das Burdensharing zu oft auf den finanziellen Beitrag reduziert, schreiben die Autoren des Londoner Thinktanks.

Nur vier europäische NATO-Staaten erfüllen die Quote

In den USA herrscht dennoch mit Blick auf die reinen Statistiken der bestimmende Eindruck vor, dass sich die europäischen NATO-Mitglieder viel zu sehr auf die Amerikaner verlassen und selbst zu wenig finanzielles Engagement zeigen. Denn zum einen übernehmen die USA 72 Prozent der Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten, die Europäer dagegen nur 26 Prozent. Die verbleibenden 2 Prozent entfallen auf Kanada. Und während die Vereinigten Staaten zum anderen nach Angaben der NATO mehr als 3,6 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben, erreichen nur Griechenland (2,4 Prozent), das Vereinigte Königreich (2,2 Prozent), Estland (2,2 Prozent) und Polen (2,0 Prozent) die nötige Quote von mindestens zwei Prozent, die sich die NATO-Mitgliedsländer selbst während des Gipfels in Wales 2014 verordnet haben. In Bezug auf die nackten Zahlen leistet Deutschland mit seinen aktuell circa 1,2 Prozent des BIP dementsprechend zu wenig. Für die USA fängt jede Diskussion über ausgewogenes Burdensharing mit den finanziellen Beiträgen an. Für Europa stellt die Beitragsfrage dagegen den Schlusspunkt in der Debatte über faire Lastenteilung dar – vor allem was den zeitlichen Horizont angeht.

Trump drängt, Deutschland lässt sich Zeit

Bis zum Jahr 2024 haben sich die NATO-Mitgliedstaaten zum Ziel gesetzt, ihre Verteidigungsetats auf zwei Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen oder auf diesem Niveau zu halten. US-Präsident Donald Trump pocht ebenso wie Mattis darauf, dass alle europäischen NATO-Partner so zügig wie möglich die zwei Prozent erreichen. Die Europäer dagegen haben eher die mittelfristige Perspektive, also 2024, im Fokus – und allein Deutschland, die größte Volkswirtschaft der EU und die viertgrößte der Welt, tut sich schwer damit, seinen Wehretat schnell um zweistellige Milliardenbeiträge aufzustocken. Das spiegelt die parlamentarische Auseinandersetzung ebenso wider wie die konträren Positionen innerhalb der Bundesregierung zwischen der auf diesem Politikfeld spendableren CDU/CSU um Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und der zurückhaltenden SPD um Bundesfinanzminister Olaf Scholz.

Mangelnde Effizienz verstärkt Europas Probleme

Mit einer höheren Effizienz in der Planung, Beschaffung und in den Ausgaben für Rüstungsgüter würde die Debatte über faire Lastenteilung womöglich nicht so einseitig um das 2-Prozent-Ziel kreisen. Professor Dr. Sven Biscop, Direktor des „Europe in the World“-Programms am Brüsseler Egmont-Institut für internationale Beziehungen, kritisiert die Zielvorgabe noch aus einem anderen Grund als Lunn und Williams. Er argumentiert in einem Dossier, dass die 28 EU-Mitglieder einen Großteil der ausgegebenen 200 Milliarden Euro verschwenden würden, um getrennte Verteidigungssysteme und 28 weitgehend überlappende Fördersysteme dafür aufrechtzuerhalten. Außerdem investierten die Staaten zu sehr in die angebotenen Produkte der nationalen Rüstungsindustrien, anstatt zielgerichtet in geeigneten Bedarf. „Wenn Europa all die unbrauchbaren Fähigkeiten und sämtliche unnötige Vervielfältigung beschneiden würde, könnte es die Militärkräfte, die es braucht, zu Kosten von unter zwei Prozent des BIP aufbauen“, hält Biscop fest.

Vielfältige Aufgabenpakete müssen geschultert werden

Worin bestehen nun die weiteren Bestandteile der Lastenteilung? Das zentrale Element ist die Erfüllung des jedem NATO-Mitglied im Konsens aller 29 Partner zugewiesenen Aufgabenpakets. Welche genauen Aufgaben die einzelnen Länder übernehmen sollen, richtet sich nach nationalen Kennziffern. Die Bevölkerungszahl, die Wirtschaftskraft und spezifische militärische Kapazitäten und Fähigkeiten – etwa eine Spezialkompetenz im Bereich der Cyberabwehr oder gewachsene Erfahrung in der Entwicklung und Produktion von Rüstungsgütern wie beispielsweise eines Transporthubschraubers – bestimmen den Umfang des Leistungskatalogs. Auf der verteidigungspolitischen Ebene gibt es im Wesentlichen drei Arten von Aufgaben. Die erste umfasst die gesicherte Zurverfügungstellung von Rüstungsgütern, also etwa von Schützenpanzern, U-Booten und Kampfjets. Je nach Einsatzbereitschaft dieser Systeme variiert die Handlungsfähigkeit des jeweiligen Militärs im Ernstfall. Die zweite Gruppe von Aufgaben besteht aus Übungen im NATO-Verbund. Entscheidende Fragen in diesem Zusammenhang sind, ob die nationalen Truppenkontingente in der vereinbarten Größe an Militärübungen teilnehmen, ob die vollständige Dauer der Übung eingehalten wird, ob das entsprechende Gerät im funktionstüchtigen Zustand getestet werden kann und welche Beiträge zur inhaltlichen und analytischen Nachbereitung geliefert werden.

Aktivitätsindex würde 2-Prozent-Ziel erweitern

Die dritte Aufgabenart schließlich betrifft Einsätze und Missionen der NATO. Auch hier ist das relevante Kriterium, ob die einzelnen Mitglieder ihren Verpflichtungen in Truppenstärke und Bereitstellung von Rüstungsgütern nachkommen. Dazu gehört aber auch eine funktionierende Logistik: Militärisches Gerät muss gesichert und schnell über Straßen und Schienen an den jeweiligen Einsatzort gebracht werden. Auch die Versorgung mit Nachschub muss darüber gewährleistet sein. Generalleutnant Frederick B. Hodges etwa, bis Ende 2017 Commanding General der U.S. Army Europe, hat den Aufbau einer reibungslosen Logistik für militärische Operationen innerhalb Europas zu einem seiner wichtigsten Anliegen gemacht. Die Botschaft ist angekommen: Die EU-Kommission will im kommenden Jahrzehnt 6,5 Milliarden Euro investieren, um Straßen, Schienen und Brücken panzertauglich auszubauen. Die Bundesregierung unterstützt das US-Militär beispielsweise häufig mit der Erteilung von Überflugrechten und der Nutzung von Stützpunkten, Militärbasen und Kommunikationszentren. Aus der Logik dieser vielfältigen Aufgaben der NATO-Verbündeten heraus plädiert daher Verteidigungsministerin von der Leyen für die Nutzung eines Aktivitätsindexes, der die tatsächlich geleistete Beteiligung aller Mitglieder nach standardisierten Kriterien erfasst und mit den vereinbarten Aufgabenpaketen abgleicht.

Bundeswehrsoldaten führen die Battlegroup in Litauen an

Die Stabilisierung von bedrohten oder krisenhaften Staaten innerhalb und außerhalb des NATO-Gebiets trägt ebenfalls zur fairen transatlantischen Lastenteilung bei. Mehrere europäische Staaten sind zur Abschreckung des russischen Expansionsdrangs zum Beispiel an der Truppenstationierung von multinationalen Bataillonen im Baltikum sehr aktiv beteiligt. Deutschland etwa führt die Battlegroup in Litauen unter rotierender Beteiligung von Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Kroatien, Norwegen und Luxemburg an. Ebenso engagiert sich die Bundeswehr stark an der Ausbildungs- und Beratungsmission „Resolute Support“ für die örtlichen Sicherheitskräfte in Afghanistan. Die Mandatsobergrenze liegt derzeit bei 980 deutschen Soldaten. Die Bundeswehr ist in zahlreiche Aufträge eingebunden. Aktuell beteiligt sie sich an 14 Einsätzen im Rahmen von Mandaten der NATO, der UN sowie der EU. Auch wenn die wenigsten europäischen NATO-Staaten zwei Prozent ihres jeweiligen BIP für Verteidigung ausgeben, sind sie jedoch für nachhaltige Sicherheit täglich aktiv im Einsatz.

Burdensharing auch im diplomatischen Raum

Über die verteidigungspolitische Ebene und damit über die NATO hinaus tragen diplomatische Initiativen zur Lastenteilung der transatlantischen Partner in einer zunehmend konfliktbeladenen Welt bei. Der Westen hat etwa in der Ukraine-Krise im Normandie-Format nicht in erster Linie an der Seite der Amerikaner verhandelt und immerhin das Minsker Abkommen erzielt – so umstritten die Ergebnisse auch sind und so mangelhaft die Umsetzung bislang ausfällt. Die beiden außenpolitischen Protagonisten des Westens waren vor allem Deutschland und Frankreich – an den entscheidenden Gesprächen mit Russland und der Ukraine waren die Amerikaner nicht beteiligt. Dagegen sind die Vereinigten Staaten in Ländern des Mittleren Ostens häufig die führenden Gesprächspartner auf diplomatischem Parkett und können ihrerseits über Jahrzehnte etablierte Gesprächskanäle nutzen. Der Fall Afghanistan zeigt allerdings, dass geschlossene und koordinierte transatlantische Diplomatie auch außerhalb des nordatlantischen Raumes möglich ist.

Zivile Komponenten flankieren und entlasten sicherheitspolitische Elemente

Auch entwicklungspolitische Zusammenarbeit kann im weiteren Kontext der fairen transatlantischen Lastenteilung berücksichtigt werden. Die europäischen Staaten sind in der Prävention und Nachsorge von Krisen verstärkt gefordert, wenn man sich nur die vielen Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent und die daraus resultierenden Flüchtlings- und Migrationsbewegungen in Richtung des europäischen Festlandes vergegenwärtigt. Dies wird zuallererst eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre für die Europäische Union sein, da europäische Interessen hierbei unmittelbar betroffen sind – sehr viel stärker als amerikanische Interessen. Eine erfolgreiche Entwicklungshilfe kann jedoch dazu beitragen, dass sich Krisenregionen nicht erneut zum Kriegsschauplatz entwickeln, der eine NATO-Mission erforderlich macht. Zivile Komponenten flankieren und entlasten also rein sicherheitspolitische Elemente der Aufgabenteilung dies- und jenseits des Atlantiks. Botschafter Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, hat daher unter anderem in dem Anfang 2017 veröffentlichten Sammelband „Deutschlands Neue Verantwortung“ angeregt, auch Ausgaben für Diplomatie, Krisenprävention, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Initiativen in die Gesamtschau des fairen Burdensharings zu integrieren. Er schlägt drei Prozent des BIP als Richtwert vor.

Die nähere Betrachtung der einzelnen Bestandteile der fairen transatlantischen Lastenteilung zeigt, dass diese noch nicht erreicht ist und immer wieder neu verhandelt, in praktische Politik überführt und austariert werden muss. Die Zielsetzung des ausgewogenen Burdensharings wird die westlichen Bündnispartner noch lange begleiten – weit über das 2-Prozent-Ziel der NATO hinaus.

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