Interviewreihe Zukunft der NATO

Scherf und Bachmann: „Europas Streitkräfte stehen an einer Weggabelung“

Gundbert Scherf

Interview: Robin Fehrenbach

Teil XII unserer Serie: Gundbert Scherf und David Bachmann haben eine umfassende Studie über den Zustand der europäischen Streitkräfte durchgeführt. Der Partner und der Associate Partner von McKinsey bemängeln darin langjährige Etatkürzungen und ein unkoordiniertes Beschaffungswesen. Im Doppelinterview mit der Atlantik-Brücke ziehen sie den Schluss, dass die Europäer nur durch stärkere Integration und Vernetzung ein handlungsfähigeres Militär entwickeln.

Dr. Scherf, Dr. Bachmann, Sie haben für McKinsey in Zusammenarbeit mit der Münchner Sicherheitskonferenz und der Hertie School of Governance eine viel beachtete Studie zur Zukunft der europäischen Streitkräfte vorgelegt. Was sind Ihre Erkenntnisse zur aktuellen Lage?

Gundbert Scherf: Die Ergebnisse unserer Analyse zeigen: Die europäischen Streitkräfte sind überwiegend in einem schlechten Zustand. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe, unter anderem die nach dem Ende des Kalten Kriegs stattgefundenen, weitgehend unkoordinierten Kürzungen in den Verteidigungshaushalten, die sich im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise dann nochmals verschärft haben. Aber auch die zunehmende Anzahl an Auslandsmissionen hat dazu beigetragen, dass die ohnehin schon an zahlreichen Stellen geminderten militärischen Fähigkeiten der Europäer häufig am Ende nur zu einem geringen Anteil genutzt werden können: In manchen Ländern ist annähernd die Hälfte der Waffensysteme nicht einsatzfähig.

David Bachmann: Dazu kommt, dass sich die Europäer trotz all dieser offensichtlichen Schwächen und Herausforderungen weiterhin eine fragmentierte Verteidigungsindustrie und ein nicht minder fragmentiertes Beschaffungswesen leisten. Man muss sich vor Augen führen, dass die Europäer 2016 sechs Mal so viele Typen von Waffensystemen im Einsatz hatten wie die Amerikaner. Ein Beispiel: Während die USA sich auf einen einzigen Kampfpanzertyp beschränken, leisten sich die Europäer 17 verschiedene Typen.

Das hat natürlich weitreichende Implikationen für den ganzen Lebenszyklus dieser Systeme, da Anschaffung und Unterhalt der Panzer sowie die Ausbildung der Besatzungen entsprechend teurer, da aufwändiger sind.

Aber das ist nur die eine Seite. Viel wichtiger ist aus unserer Sicht, dass durch diese Fragmentierung die Interoperabilität und damit die Möglichkeit, gemeinsame Einsätze zu planen und bestreiten, stark behindert wird. Das geht am Ende alles auf die Kosten der Streitkräfte.

Man muss sich vor Augen führen, dass die Europäer 2016 sechs Mal so viele Typen von Waffensystemen im Einsatz hatten wie die Amerikaner.David Bachmann

Das klingt nach einer vertrackten Situation. Gibt es Wege raus aus dieser Abwärtsspirale?

Scherf: Ja. Die jetzt steigenden Verteidigungshaushalte bieten der Politik in den nächsten Jahren die Möglichkeit, darauf zu reagieren und angemessenere europäische Streitkräfte aufzubauen, die der neuen Bedrohungslage entsprechen.

Um sich einmal die Größenordnung vor Augen zu führen: Sollten ab 2024 die 28 EU-Mitglieder und Norwegen tatsächlich 2 Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgeben, stünden jährlich zusätzlich 114 Milliarden Dollar zur Verfügung. Dies entspricht in etwa dem doppelten Verteidigungshaushalt des Vereinigten Königreichs im Jahr 2017.

Uns ist natürlich klar, dass dieses 2-Prozent-Ziel nicht deterministisch und letztlich politisch nicht wirklich verbindlich ist. Aber in jedem Fall bietet sich in den nächsten Jahren Europa im Kontext der 2-Prozent-Debatte eine einzigartige Möglichkeit, um seine Streitkräfte besser zu organisieren und auszustatten.

In jedem Fall bietet sich in den nächsten Jahren Europa im Kontext der 2-Prozent-Debatte eine einzigartige Möglichkeit, um seine Streitkräfte besser zu organisieren und auszustatten.Gundbert Scherf

Wie und wofür sollte das zusätzliche Geld sinnvoll ausgegeben werden?

Bachmann: Die Europäer haben jetzt die große Gelegenheit, die Weichen dafür zu stellen, dass ihre Streitkräfte integrierter, besser vernetzt und handlungsfähiger werden. Unsere Analyse hat dafür fünf Stoßrichtungen aufgezeigt, die echten Mehrwert aus den steigenden Verteidigungsbudgets bringen können: Erstens sollten die Europäer die steigenden Budgets in erster Linie für gemeinsame Beschaffung ausgeben. Eine Harmonisierung der Anforderungen an die Industrie und die gemeinsame Beschaffung identischer Produkte könnten bis zu 30 Prozent der Beschaffungskosten einsparen – etwa 15 Milliarden Dollar pro Jahr.

Von besonderer Bedeutung ist zudem, gemeinsam an der mangelnden Verfügbarkeit zu arbeiten. Selbst eine minimale Erhöhung der durchschnittlichen Verfügbarkeit um nur einen Prozentpunkt brächte das gleiche Ergebnis wie Neuinvestitionen von zehn Milliarden Dollar.

Selbst eine minimale Erhöhung der durchschnittlichen Verfügbarkeit um nur einen Prozentpunkt brächte das gleiche Ergebnis wie Neuinvestitionen von zehn Milliarden Dollar.David Bachmann

David Bachmann

Drittens braucht Europa eine weitere Konsolidierung seiner Verteidigungsindustrie. Das muss staatlich getrieben und eingefordert werden. Viertens sollten die Europäer vor allem auf besser vernetzte Streitkräfte setzen. Fünftens schließlich sollten die europäischen Staaten ihr Budget für Forschung und Entwicklung stark ausbauen.

Ein zentraler Befund der Studie sind die unzureichenden Digital- und Aufklärungsfähigkeiten europäischer Streitkräfte. Sie schlagen beispielsweise vor, die Zahl der europäischen Cybermilitärs von circa 3.000 auf bis zu 7.000 aufzustocken. Ist die Software tatsächlich so ein zentrales Thema für sonst eher Hardware-lastige Streitkräfte?  

Scherf: Streitkräfte sind natürlich mehr als Software und Analytics. Es geht immer auch um ganz klassische Waffensysteme. Aber die beiden Themen schließen sich nicht aus, sondern müssen kombiniert werden. Es geht um vernetzte, digitalisierte Waffensystem-Plattformen – also die Digitalisierung im Kern von Streitkräften. Dazu gehört, die etwa 120 bis 140 Milliarden Dollar große Investitionslücke im Bereich „Interconnectedness“ und Digitalisierung zu schließen und existierende Systeme zu modernisieren. Europa muss zudem seine Cyber-Fähigkeiten deutlich ausbauen.

Bachmann: Um diese Investitionen zu stemmen, sollten die Europäer in Zukunft deutlich mehr als die von der NATO empfohlenen 20 Prozent des Verteidigungshaushalts für Ausrüstung ausgeben. Eine solche Schwerpunktsetzung ließe sich auch der Bevölkerung gut vermitteln. In der für unsere Studie durchgeführten Umfrage wurde auch danach gefragt, welche Prioritäten bei den Verteidigungsausgaben gesetzt werden sollten. Zwischen 46 Prozent (in Deutschland) und 65 Prozent (in Italien) der Befragten sprachen sich dafür aus, in Cyber-Sicherheit zu investieren.

Innovation ist ein zentrales Thema Ihres Berichts. Wie können Streitkräfte wie die Bundeswehr denn an den Innovationen der digitalen Welt besser teilhaben?

Scherf: Streitkräfte müssen immer die Speerspitze der Innovation in ihrem Kerngeschäft sein. Innovation findet aber zunehmend im zivilen Sektor statt – jenseits der Streitkräfte. Wir alle wissen, welche Rolle private Spieler wie Google oder Amazon hier inzwischen haben – dort sind die zurzeit bedeutenden Budgets angesiedelt.

Streitkräfte müssen immer die Speerspitze der Innovation in ihrem Kerngeschäft sein.Gundbert Scherf

Dadurch laufen Europas Streitkräfte Gefahr, dauerhaft den technologischen Anschluss zu verlieren. Deshalb müssen die europäischen Länder Wege finden, innovative Unternehmen, die bislang wenig mit Verteidigung zu tun hatten, mit in den Verbesserungs- und Veränderungsprozess, der nun ansteht, einzubeziehen. Eine sinnvolle Maßnahme könnte sein, eine europäische Version der amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) zu gründen. Die Investitionen von DARPA haben in der Vergangenheit immer wieder zur Entwicklung neuer Technologien geführt, sowohl für die zivile als auch die militärische Nutzung. In Deutschland gibt es da ja auch schon vielversprechende Anlagen im Koalitionsvertrag.

Hochproblematisch ist Ihrer Studie zufolge die zersplitterte Verteidigungsindustrie in Europa, die sechsmal so viele Waffensysteme wie die USA produziert. Was sind aus Ihrer Sicht wirksame Schritte?

Bachmann: Für die gemeinsame Beschaffung müssen große, sichtbare Rüstungsprojekte zwischen zwei oder drei Ländern gemeinsam, mit harmonisierten Forderungen aufgesetzt werden. Dass das geht, zeigen aktuelle Beispiele wie das gemeinsame U-Boot-Programm zwischen Deutschland und Norwegen. Hier wurde erstmals in Europa zwischen zwei Nationen der Bau für ein identisches U-Boot geplant und skizziert, das jetzt gemeinsam beschafft werden soll. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Das zeigen zahlreiche europäische Rüstungs- und Beschaffungsprojekte: Von diesen großen, als europäisch gelabelten Waffensystemen gibt es oft mindestens so viele unterschiedliche Versionen, wie es Nutzerstaaten gibt. Die heißen am Ende zwar in allen Ländern noch gleich, aber de facto handelt es sich um unterschiedliche Modelle mit unterschiedlichen Ersatzteilen, unterschiedlichen notwendigen Ausbildungen, und so weiter.

Berücksichtigt man, dass der Unterhalt eines Waffensystems für bis zu 70 Prozent der Gesamtkosten über die Nutzungsdauer zu Buche schlägt, sollte auch die gemeinsame Instandhaltung den Kern zukünftiger europäischer Kooperation ausmachen. Das geht aber nur, wenn zahlreiche Länder tatsächlich identische Waffensysteme nutzen – und nicht nur welche, die den gleichen Namen haben.

Scherf: Aus unserer Sicht ist am Ende für die Beschaffung entscheidend, dass die Verteidigungsindustrie konsolidiert wird. In Europa haben heute sechs Länder eine nennenswerte eigene Industrie. Und so ist es kein Zufall, dass wir auch eine sechsmal höhere Fragmentierung der Plattformen haben als die Amerikaner. In jedem Land gibt es eine starke Lobby für die nationalen Produkte. Hier muss die Politik einen klaren Rahmen vorgeben. Insbesondere muss die Bevorzugung nationaler Rüstungsunternehmen auf Kosten der Interoperabilität und europäischer Sicherheit stark reduziert werden.

Aus unserer Sicht ist am Ende für die Beschaffung entscheidend, dass die Verteidigungsindustrie konsolidiert wird.Gundbert Scherf

Viele der Impulse wurden ja bereits aufgegriffen – aber sind Sie in Summe zuversichtlich, dass die Europäisierung, Digitalisierung und Vernetzung von unseren Streitkräften schnell genug vorangeht?

Scherf: Tatsächlich gibt es für alle Empfehlungen, die sich aus unserer Analyse ergeben, gute Beispiele in der Planung oder Umsetzung. Aber richtig ist: Wir stehen an einer echten Weggabelung, an der eine Politik des „Weiter wie gehabt“ nicht mehr verantwortbar ist, wenn Europa seine Souveränität selbst in der Hand behalten möchte. Sollte die Chance jetzt vertan werden, würde der verbesserungswürdige Zustand der europäischen Streitkräfte auf Jahrzehnte festgeschrieben. Nur wenn Europas Nationalstaaten die Kleinstaaterei in der Verteidigungspolitik überwinden und gemeinsam europäischere und besser vernetzte Streitkräfte aufbauen, werden sie die militärischen Fähigkeiten erlangen können, die sie benötigen, um Europa sicherheitspolitisch wirklich handlungsfähig zu machen.

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